„Jedes Kind kann singen“
Wie bringe ich Kinder zum Singen? Auf diese Frage hat Felix Koch, Professor an der Mainzer Hochschule für Musik, eine faszinierende Antwort gefunden: In der letzten Woche vor den Sommerferien lud er zu einem Grundschulsingen ein, für das sich über tausend Kinder mit ihren Lehrerinnen und Lehrern auf dem Domplatz der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt versammelten und gemeinsam zuvor im Unterricht vorbereitete Lieder anstimmten. Im Interview umreißt Koch sein Erfolgsrezept:
Der Volksmund sagt: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Inwiefern trifft das auch aufs Singen zu?
Felix Koch: Singen lernt man natürlich am besten im frühen Kindesalter. Kindergarten und Grundschule sind die besten Fenster, um den Spaß am Singen in sich aufzunehmen, die Stimme von Grund auf richtig einzustellen und sie so zu gebrauchen lernen, dass man sie sein Leben lang als Singstimme nutzen kann. Natürlich kann man auch als Erwachsener noch singen lernen, aber um sich gesund durchs Leben singen zu können, ist die frühe Phase der Entwicklung die entscheidende.
In den meisten Familien wird kaum mehr gesungen und Musik meist nur noch passiv konsumiert. Dadurch sinkt die Fähigkeit zu singen. Was aber ist mit der Bereitschaft?
Felix Koch: Die ist auf jeden Fall vorhanden. Gerade kleine Kinder reagieren spontan auf alles, was ihnen Spaß macht – vor allem wenn sie sehen, dass die Identifikationsfiguren, also Lehrkräfte, Erzieher im Kindergarten oder Leiter von Jugendgruppen selbst mit Freude dabei sind. Das motiviert und spornt an. Die Bereitschaft zu singen ist dann auch epochen- und genreübergreifend: Kinder haben überhaupt keine Berührungsängste vor jedweder Form von Liedern – egal, ob das nun Volkslieder, Folk- oder Jazzsongs sind. Kinder sind komplett offen und haben noch keine Barrieren im Kopf aufgebaut, wie das später passiert, wenn man sich auch auf bestimmte Musikrichtungen spezialisiert.
Was motiviert Sie mit Grundschulkindern zu arbeiten?
Felix Koch: Ich möchte jedem Kind zeigen, dass es selber etwas kann, dass es selbst musikalisch aktiv sein kann. Das schlimmste, was man einem Kind egal in welcher Altersstufe antun kann, ist ihm zu sagen: Du kannst nicht singen. Das ist kompletter Blödsinn! Jedes Kind kann singen lernen und wenn es das dann aus vollem Halse tut, dann ist das etwas, was es überall hinträgt, Selbstbewusstsein schafft und einen Menschen eigentlich in jeder Lebensphase mit Selbstsicherheit und Glück versorgt. Singen gehört dann dazu wie Essen, Trinken, Lesen und Schreiben, es ist etwas ganz Selbstverständliches.
Und wie vermitteln Sie das?
Felix Koch: Zuerst mal muss man den Kindern klarmachen, dass Singen besonders dann Freude bereitet, wenn man es richtig gut macht und merkt: Wow, das passt zueinander, da gehört was zusammen, was nicht stört und was mich in einer Gruppe selbst erfahrbar macht. Und das ist beim Singen ja etwas ganz eminent Tolles! Meine Ausgangsfrage war also: Wie schaffe ich es, hierfür zu begeistern? Und das trifft ja nicht nur auf Kinder zu: Wann trauen sich Erwachsene zu singen? Wenn sie das in einer Großgruppe tun und ein Gemeinschaftsgefühl entsteht; wir kennen das aus Fußballstadien oder von großen Open-air-Konzerten. Bei Kindern ist das ja nicht anders: Je mehr da zusammen singen, umso größer ist die Freude daran.
Mit diesem Ziel vor Augen entwickelten Sie das Grundschulsingen auf dem Mainzer Domplatz. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Felix Koch: Wir haben das tatsächlich vom Endergebnis her konzipiert und ein großes Event geplant, bei dem mehrere hundert Kinder zusammen singen – am besten unter freiem Himmel auf einem großen Platz, wo es auch Mama und Papa sehen können und die Kinder stolz sind, etwas zu zeigen. Hierfür sind wir auf Schulen in Mainz und dem Umland zugegangen und haben Lehrerinnen und Lehrer angeregt, bei einem Projekt mitzumachen, bei dem sich ganz viele Schulen miteinander verbinden können. Uns schwebte da ein musikalisches Grundschul-Netzwerk vor, in dem 50 bis 60 Einrichtungen auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Und das hat geklappt: Im diesem Jahr hatten wir 1.200 Kinder auf dem Domplatz in Mainz, die mit einer Riesenbegeisterung zusammen gesungen haben.
Wie war die Resonanz?
Felix Koch: Mit dem ersten Domplatz-Singen, das wir im vergangenen Jahr eher spontan veranstaltet hatten, schafften wir es tatsächlich, nicht nur eine große Neugier zu wecken, sondern auch die Bereitschaft, sich hier weiterzubilden. Alle teilnehmenden Lehrkräfte wünschten sich eine Wiederholung und regten sogar einen Workshop für sich selbst an, um Wege aufgezeigt zu bekommen, wie sie die Kinder für das gemeinsame Singen begeistern können. Wir haben hier also offene Türen eingerannt. Das beste Signal war aber, dass die Kinder bereits auf dem Weg zum Domplatz schon gesungen haben und Leute erzählten, dass sogar in den Bussen gesungen wurde. Das zeigt ja, dass die Kinder es gar nicht abwarten konnten, bis das Konzert begann.
Wie erleben Sie das Singen mit Kindern persönlich?
Felix Koch: Als einen der glücklichsten Momente überhaupt, weil es zeigt: Sie wollen, sie wollen singen, sie wollen etwas zeigen – ein unglaublich tolles Gefühl! Die Kinder lernen Lieder, die sie dann als etwas ganz Persönliches mit sich tragen. Es kommt übrigens unheimlich oft vor, dass Kinder Monate oder sogar Jahre später wiederkommen und sagen: Herr Koch, ich kann das Lied noch, darf ich das mal vorsingen?
Das Mainzer Domplatz-Singen ist also keine Eintagsfliege?
Felix Koch: Überhaupt nicht! Ich habe das auch schon in Frankfurt veranstaltet und durfte erleben, dass durch das Musizieren mit den Kindern das Singen auch in die Familien getragen wurde. Aus den Familien haben sich die Eltern dann an die Schulleitung gewandt und angeregt, einen Eltern-Lehrer-Chor zu gründen. Die wurden von ihren Kindern geradezu angesteckt. Das hat die Frankfurter Liebfrauen-Schule dann tatsächlich realisiert.
Ebenfalls Tatsache ist, dass in den Schulen immer weniger gesungen wird. Woran liegt das?
Felix Koch: Da muss man differenzieren, denn an den weiterführenden Schulen wird hier ja schon einiges gemacht. Aber in den Grundschulen und Kindergärten haben wir tatsächlich ein Problem, denn gerade hier gibt es viel zu wenig musikpädagogisch ausgebildetes Personal, um die Kinder im entscheidenden Alter anzusprechen.
Wie könnte hier eine Kehrtwende herbeigeführt werden?
Felix Koch: Aktivitäten wie „Jedem Kind seine Stimme“ in Nordrhein-Westfalen, „Primacanta“ in Frankfurt oder die „Singpause“ in Düsseldorf versuchen ja bereits erfolgreich gegenzusteuern. Aber wir brauchen noch viel mehr solche Initiativen, die unsere Idee in die Erziehungseinrichtungen tragen: Chöre mit begeisterten Dirigenten und Sängern sollen in die Schulen gehen, um mit den Kindern zu singen; auch Musikschulen, Konservatorien und Musikhochschulen können hier ebenfalls wichtige Vermittler sein, weil sie damit vor allem ja auch ihren eigenen Nachwuchs heranziehen können. Musikpädagogisch ausgebildetes Personal muss hierfür Coaches anleiten und weiterbilden. Da sind auch die Chorverbände gefordert. Hilfreich wäre ein Coaching-Netzwerk, in dem ein Team arbeitet, das sich gut mit Kinderstimmbildung auskennt und Fragen beantwortet, wie man der Problematik eines mangelnden Grundtonempfindens oder so genannten „Brummerkindern“, die sich noch nicht an eine Melodie halten können, begegnen kann. So etwas ist ja zu lösen: Genau, wie es Lernprogramme bei Lese- oder Rechenschwächen gibt, existieren Programme des aufbauenden Musikunterrichts. In den letzten zehn, 15 Jahren ist da schon einiges entstanden. Aber eben noch nicht genug.
ColMusiKuss heißt die musikpädagogische Reihe des Collegium musicum der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Unter der Leitung von Prof. Felix Koch veranstaltet man hier mit entsprechend geschultem Personal sowie Mitwirkenden aus UniChor und UniOrchester mehrmals im Jahr Mitmach-Konzerte für Kinder im Grundschulalter, in denen es immer auch um die eigene Stimme und ihren richtigen Einsatz beim Singen geht. Ein Angebot sind die jährlichen Domplatz-Konzerte, an denen rund 60 Schulen teilnehmen und gemeinsam Lieder singen, die im Vorfeld mit den hierfür in einem Workshop eigens angeleiteten Lehrkräften einstudiert werden. Weitere Informationen gibt es im Internet unter https://www.collegium-musicum.uni-mainz.de/colmusikuss/.