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Der Musiker als Betrachter

MAINZ (26. November 2023). Im November steht traditionell die Erinnerung im Mittelpunkt, den Abschluss bildet der Toten- oder Ewigkeitssonntag. An diesem stillen Gedenktag sind fröhliche und laute Veranstaltungen untersagt, weswegen sich das Konzert, das der Pianist Jürgen Jage in der Reihe „Kammermusik in Philippus“ in Mainz-Bretzenheim gab, umso passender einfügte. Zum Gedenken, so der Künstler, brauche es indes Zeit – und dafür Entschleunigung. Unter diesem Motto stand sein Solo-Rezital, für das er Werke von Johann Sebastian Bach und Johannes Brahms zu einem stimmigen Klangkompendium komponiert hatte.

In einer kurzen Anmoderation beschrieb Jage den Eindruck, den die Musiken dieser Meister auf ihn machten: Bach mit seinen zarten Tönen und einer rationalen, klaren Struktur sei für ihn, wie in klares Quellwasser zu schauen, während Brahms eher satte und durchaus lautere Klänge habe. Zur Verdeutlichung schlug der Pianist ein paar Töne auf dem Cembalo an, bevor er sich an den Flügel setzte: Nachhall hier, flüchtiger Ton dort. Musiker – aktive und passive – sind für Jage Reisende, Betrachter. Und auch hierfür brauche es mithin Ruhe und Zeit.

So war es fast schon ein klingendes Sinnbild, dass das Konzert von der Aria aus Bachs Goldberg-Variationen (BWV 988) eröffnet wurde: feinfühlig im Anschlag, kantabel schwebend, geschmeidig aber eben alles andere als rundgelutscht. Denn ein Signé, das sich durch alle Stücke des Abends zog, war der ungezwungene Umgang mit dem Metrum: Jage gestaltet die Musik lieber als agogischer Freigeist, als sich einem inneren oder gar äußeren Metronom zu beugen. Er schenkte seiner Interpretation dadurch etwas Persönliches, ja geradezu Intimes – Musik ist eben weit mehr, als nur richtige Töne zu produzieren. Und hier atmete sie Weite.

Bach und Brahms erklangen im steten Wechsel und auf die Aria folgte das A-Dur-Intermezzo op. 118 mit packenden Crescendi, die den Hörer wie klingende Wellen umspülten: nach dem klaren Quell nun die Kraft der auflaufenden Flut. Die leisen Stellen gestaltete Jage hingegen verträumt wie ergriffen und dadurch ebenso ergreifend. In der Sarabande aus der e-Moll-Partita (BWV 830) nutzte der Pianist erneut die Freiräume, die Bach dem Interpreten schenkt – auch und vor allem auf dem modernen Konzertflügel: Einmal mehr durfte man erleben, wie sehr Barockmusik von der Klangwelt gerade dieses Instruments profitieren kann. In einem Interview sagte der Pianist Kit Armstrong dazu: „Ihre Struktur kann auf eine klangschöne Art und Weise veranschaulicht werden, und Ihre mannigfaltigen Charaktere lassen sich lebendig wiedergeben.“ Genau dies gelang auch Jürgen Jage hier wie später im gleichen Satz aus der c-Moll-Partita (BWV 820).

Mit den folgenden Werken griff der Künstler dann das Bild von ewiger und temporärer Ruhe und Bewusstlosigkeit auf: Tod und Schlaf. Beginnend mit Brahms‘ von Max Reger für Soloklavier bearbeitetem Lied „Oh Tod, wie bitter bist Du“ aus den Vier ernsten Gesängen op. 121 schlug Jage mit monolithischen Bassklängen die Todesglocke, wodurch die lyrische Zartheit der Singstimme besonders berührend hervorgehoben wurde. Der Tod als „Schlafes Bruder“ ist Thema des Schlusschorals aus der Kreuzstabkantate (BWV 56), den Jage nun auf dem Klavier spielte: Würde ein Chor ihn so bedächtig singen, klänge das quälend langsam, hier jedoch ließ das bewusste Verharren auf der Fermate den Hörer kurz innehalten – eine sanfte Erinnerung an die so nötige Entschleunigung.

Das zweite Intermezzo des Abends (aus Opus 117) hatte Brahms 1892 auf die Verse „Schlaf sanft, mein Kind“ komponiert und bereits dieses Stück hat einen spieldosenartigen Klang, den Jage im Glockenspiel des As-Dur Intermezzos op. 76 noch filigraner herauskitzelte und so die Betrachtung in ein versöhnliches Fahrwasser weg vom Tod und hin zum Trost führte. Den Gedanken der Spieluhr spann er dann im finalen Bach-Stück wunderbar zu Ende: mit dem von Myra Hess bearbeiteten Choral „Jesu bleibet meine Freude“ aus der Kantate „Herz und Mund und Tat und Leben“ (BWV 147), der zum Schluss hin tatsächlich Note für Note sanft auszuklingen schien. Die Zugabe war dann die passende Conclusio: Bachs Aria, die die Goldberg-Variationen ja nicht nur eröffnet, sondern auch beschließt.

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