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Im Rausch der Tiefe

EBERBACH (25. August 2010). Für den einen ist die „Kunst der Fuge“ das wasserdichte Kacheln eines sanitären Nassbereichs, für den anderen Bachs exemplarische Abhandlung für Tasteninstrumente. Was beides eint: Es muss fachgerecht gearbeitet werden. Mit Konstantin Lifschitz war ein Künstler Gast des Rheingau Musik Festivals, der vom ersten Ton an bezaubert – mit Kunst und Handwerk.

Gerade diese Musik hat vielfach beflügelt und zu Transkriptionen wie Bearbeitungen animiert: für Streich- oder Flötenquartett, Gamben-Consort oder sogar ein Ensemble aus Oboe, Saxophon, Klarinetten und Fagott; selbst die legendären Swingle Singers haben sich BWV 1080 in Teilen angenommen. Das Klavier aber bietet der „Kunst der Fuge“ zweifelsohne die größten Ausdrucksmöglichkeiten. Schon Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel stellte klar: „Es ist aber dennoch alles zu gleicher Zeit zum Gebrauch des Claviers und der Orgel ausdrücklich eingerichtet.“

Im Rheingau erklang die „Kunst der Fuge“ jetzt zudem in einem besonderen Rahmen: Statt wie gewohnt in Schloss Johannisberg zu spielen, gastierte Konstantin Lifschitz diesmal im Laiendormitorium von Kloster Eberbach. Dabei wirkte die Musik wie für den Raum geschrieben: jenes schlichte Grundthema in d-moll mit seinen gerade mal 13 Noten, mit denen Bach zeigt, „was möglicher Weise über ein Fugenthema gemacht werden könne“, wie sein Biograph Johann Nikolaus Forkel schreibt.

Auch Lifschitz, der im Rahmen des Rheingau Musik Festivals seit 2004 hier nach und nach das komplette Klavierwerk Bachs aufführt, zeigte, was er aus diesem Fugenthema machen kann: Ganz unspektakulär setzt der erste Contrapunctus ein. Doch auf diese Eröffnung folgen hochdramatische Momente, in denen der Pianist seine Klangfarben in leuchtenden Tönen mischt, sie wie in einem Aquarell ineinanderfließen lässt und doch die Fugenthemen stets gestochen scharf aufzeigt. Was würde wohl der Komponist dazu sagen, dass hier und heute ein Publikum seinem Fugenkosmos lauscht – und begeistert Applaus spendet?

14 Contrapuncti, vier Kanons und zwei Fugen umfassen die Variationen des Themas mit Gegen-, Doppel und Spiegelfuge, mit rhythmischer Veränderung etwa durch Punktierungen, in Umkehrung, Augmentation und Diminution. Was sich theoretisch wie eine trockene Gebrauchsanweisung, ein dröger Bauplan der Kompositionstechnik anhört, kann in der Praxis jedoch zum Beispiel vollkommener Tonkunst erblühen – vor allem, wenn sich ein tiefgründiger Künstler wie Konstantin Lifschitz als Führer durch dieses tonale Labyrinth empfiehlt.

Dabei erfolgte die Veröffentlichung des Notentextes zu einer Zeit, als gerade die Kontrapunktik als „alter Zopf“ immer mehr der stilistischen Schere zum Opfer fallen sollte. Wie wurde die „Kunst der Fuge“ anfangs verkannt! Nur ein Jahr nach Bachs Tod spottete der Musiktheoretiker Friedrich Wilhelm Marpurg über diese „Geburt des aberwitzigen Altertums“, der „den zärtlichen Ohren unserer itzigen Zeit barbarisch klingt“. Selbst Albert Schweitzer sinnierte über diese musikalische „stille, ernste Welt“, sie liege „öd und starr, ohne Farbe, ohne Licht, ohne Bewegung“ da. Konstantin Lifschitz aber liefert den Gegenbeweis.

Seine Interpretation kann man vielleicht mit einer maritimen Metaphorik nacherzählen: Wie ein herber Küstenstrich hören sich die monolithischen Klangbrocken im Contrapunctus 2 an; in Nr. 4 lauscht man Ebbe und Flut, in Nr. 5 gleicht der Klangteppich einer spiegelglatten See, bevor Lifschitz in Nr. 7 mit markanten Prallern vor glucksendem Komplementär-Rhythmus die Wellen schäumend aufrollen lässt. Nach Sturmesbrausen in Nr. 10 ist im Contrapunctus a 3 wieder das in Gegenbewegungen auf- und ablaufende Wasser zu vernehmen, bevor der Pianist in der finalen Fuga a 3 Sogetti den Blick in die Weite schweifen lässt. Der Horizont ist hier aber keine Grenze: Mit dem jähen Abbruch lässt Lifschitz sein Publikum nicht allein und führt es mit dem stimmungsvollen Choral „Wenn wir in höchsten Noethen sein“ in den, wie heißt es doch bei Bach: „sichern Port“.

Konstantin Lifschitz hat Bachs „Kunst der Fuge“ aktuell auf CD eingespielt: Im Oktober 2010 soll sie im Label Orfeo unter der Nummer C 802102A erscheinen.

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