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Tröstende Worte für unfassbares Leid

MAINZ (9. November 2014). Dass eine Aufführung des „Deutschen Requiems“ von Johannes Brahms im Mainzer Dom unter der Leitung von Domkapellmeister Karsten Storck ergreifend sein würde, war zu erwarten. Dass es einem an vielen Stellen vor Rührung die Tränen in die Augen trieb und schier den Atem raubte, war trotzdem eine Überraschung – erschütternd und reinigend zugleich.

Die offiziellen Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin waren sowohl von der Freude über das Ende des ostdeutschen Unrechtsstaates als auch vom Gedenken an seine Opfer geprägt – am 9. November, diesem „deutschen Datum“: An diesem Tag wurde 1918 die Republik ausgerufen, 1923 scheiterte ein Putschversuch Hitlers und 1938 brannten in Deutschland die Synagogen. 1989 schließlich fiel die Mauer. Das Domkonzert am 9. November wollte Domkapellmeister Karsten Storck vor allem aber als Beitrag zum Gedenken an die Opfer des Ersten Weltkrieges, der vor hundert Jahren entbrannte, verstanden wissen – historisch ist dennoch alles miteinander verkettet.

Hatte Amtsvorgänger Mathias Breitschaft dem „Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms 2007 die Bach-Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ von Johann Sebastian Bach gegenübergestellt, wählte Storck bewusst einen gleichsam steinigeren, dissonanteren Weg: Neben der tröstlichen Musik Brahms‘ erklang das Melodram „Ein Überlebender aus Warschau“ von Arnold Schönberg, das den niedergeschlagenen Aufstand im jüdischen Ghetto beschreibt.

2006 konnte das Mainzer Publikum diese spannungsgeladene Kombination schon einmal hören, damals sang der Bachchor – an diesem Abend musizierten unter Storcks Leitung die Domkantorei, Männerstimmen des Domchors sowie das Vokalensemble des Mädchenchores am Dom und St. Quintin. Gemeinsam mit dem Philharmonischen Staatsorchester Mainz taten sie dies mit einer tiefen Ergriffenheit, die sich bereits mit dem ersten Ton aufs Publikum übertrug: Brahms richtet seine Musik nicht an die Trauernden, sondern an die Lebenden. Und das wurde an diesem Abend mehr als spürbar.

Die Solisten Ruth Ziesak (Sopran) und Wolfgang Holzmair (Bariton) gestalteten ihre Partien ergreifend und die Chorstimmen füllten den sakralen Raum so intensiv aus, dass einen die trostvolle Musik wie ein wärmendes Bad umspülte. Domkapellmeister Storck hat sich offenbar lange mit diesem Werk beschäftigt – seine Interpretation zeugte von Verständnis und Sendungsbewusstsein, was er auch seinen Sängern vermitteln konnte.

Zuvor aber Schönberg – keine leichte Kost: Zwölftonmusik und das brutale Motiv. Ein Sprecher (berückend: Adrian Niegot) trägt die Handlung auf Englisch vor, durchbrochen von den deutschen Kommandos eines Feldwebels. Das Grauen ist fassbar und durch die klangliche Intensität der Musizierenden streckt es seine kalten Finger nach einem aus. Nicht nur bei der Uraufführung 1948 war das für viele Zuhörer eine Zumutung – die Expressivität dieser Musik ist auch noch über 66 Jahre später spürbar.

Am Schluss singen die Geknechteten auf dem Weg in die Gaskammer, singt ein Männerchor das jüdische Glaubensbekenntnis „Schma Jisrael“. Trost? Schwer vorstellbar. Und Schönbergs Musik macht es einem nicht einfacher. Dann aber erklingt fast attacca das Brahms-Requiem, nach dem Schlag der Balsam: „Ich will Euch trösten“, singt Ziesak hier unglaublich anrührend, rhetorisch fragt der Chor „Tod, wo ist Dein Stachel?“ und ätherisch vernimmt man am Schluss: „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben.“ Die Musiker schaffen also das scheinbar Unmögliche: Man geht in den Abend dieses 9. Novembers in Frieden.

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