Theaterluft schnuppern im Hohen Dom
MAINZ (4. November 2018). Nur ein einzelnes Hüsteln durchbricht die erhabene Stille, die sich nach dem letzten Akkord auf das Innere des Doms gelegt hat. Wann wird wohl der erste zu klatschen beginnen? Es dauert einen Augenblick bis es jemand wagt. Und rasch brandet dankbarer Applaus auf, steigert sich rasch zur stehenden Ovation: nach anderthalb Stunden mit dem Requiem von Guiseppe Verdi, das sich als Programm am Sonntag nach Allerheiligen als einem der höchsten Feiertage der katholischen Kirche ja förmlich aufdrängte.
Dieser Musik sagt man nach, sie sei eine „Oper im Kirchengewand“, denn Verdi hat mit dem Requiem tatsächlich ein tonales Theater geschaffen. Dass an diesem Abend das Philharmonische Staatsorchester Mainz spielt, passt da natürlich bestens. Auch in den Adern der Solisten fließt Theaterblut: Nadja Stefanoff (Sopran) und Stephan Bootz sind Ensemblemitglieder in Mainz, Bettina Ranch (Mezzo-Sopran) hat ein Engagement am Aalto Musiktheater Essen und Thorsten Büttner (Tenor) war bereits am Wiesbadener Staatstheater zu hören.
Mit der Auswahl dieser Künstler hat Domkapellmeister Karsten Storck erneut geschmackvoll Fingerspitzengefühl bewiesen und ein harmonisches Quartett zusammengestellt, das auf ganzer Linie überzeugt. Auch die glänzend präparierte und mit Verve intonierende Domkantorei St. Martin stellt mit den Männerstimmen des Mainzer Domchors einmal mehr unter Beweis, zu welch vokaler Höchstleistung derart engagierte Laienchöre in der Lage sind. Manche Mitglieder dieses Chores wirkten ebenfalls in diversen „Gastspielen“ auf der Bühne des Mainzer Staatstheaters mit und so kann man diesem Abend im Dom tatsächlich mehr als ein Näschen Theaterluft schnuppern.
Ganz fahl beginnt das Requiem: Chor und Instrumentalkörper klingen sphärisch und wie aus einer anderen Welt, bis das Fortissimo eruptiv die meditative Stille durchbricht. Storck, der Dirigent, ist hier gleichzeitig auch Dramaturg und Regisseur, der den Spannungsbogen zwischen der Todesangst und der Geborgenheit in Gottes Gnade, der Verdi als Leitfaden für sein Requiem diente, über das ganze Konzert konsequent durchhält.
Das „Dies irae“, das Verdi ja immer wieder aufblitzen lässt, ist ein rauschhaftes Erlebnis: Der in Ton gefasste Höllenritt, der den Tag der Rache und Sünde beschreibt, an dem sich das Weltall entzünden werde, umtost einen mit Macht. Statt Theaterdonner und Blitzgewitter, Kulisse und Kostüm stehen Storck Dynamik, Diktion und die Akustik zur Verfügung. Der anspruchsvolle Raum verleiht der Musik dabei fast schon etwas Dreidimensionales und mit der innigen Bitte um die ewige Ruhe angesichts des Weltenbrands fügen die Künstler diesem Requiem noch eine weitere Ebene hinzu. An diesem Abend sind sie nicht nur als Sänger gefordert, auf der von den Philharmonikern errichteten „Bühne“ dürfen sie auch ihr schauspielerisches Talent unter Beweis stellen. Und das gelingt fesselnd – am Ende leuchtet das besungene „lux perpetua“, das ewige Licht. Auch ohne Bühnenscheinwerfer.