Aller guten Dinge sind drei
SAULHEIM (29. September 2023). Gerne erinnert man sich an ein Konzert im diesjährigen Rheingau Musik Festival, das den Titel „Bei Bach zu Hause“ trug und in dem unter anderem der Blockflötist Maurice Steger die Musik des Thomaskantors so unglaublich virtuos interpretierte. Im letzten Konzert der Internationalen Musiktage mitten in Rheinhessen „Furioso!Barock“ 2023 ging es thematisch ähnlich, aber noch einmal ein wenig intimer zu: „Ein Abend bei Familie Bach“. Und mit Klaus Mertens und Ton Koopman waren es offenbar zwei enge Freunde dieser Familie, die einen dazu einluden.
Kein großes Oratorium, keine Kantaten oder Suiten werden bei den abendlichen Andachten der Familie Bach zu hören gewesen sein, sondern kleine Stücke, bei denen sie vom Alltag Abstand gewinnen konnte. Und so wählten die beiden Künstler unter anderem aus Bachs „Schemelli-Gesängen“ und dem „Notenbuch der Anna Magdalena Bach“ kurze Preziosen und ergänzten sie geschmackvoll mit Stücken von Komponisten, die Bach nachweislich geschätzt hat: Georg Böhm, Dietrich Buxtehude und Gottfried Heinrich Stölzel.
Man erlebt Bach an diesem Abend bekannt und vertraut als tief im Glauben verwurzelten Menschen, aber auch als einen den schönen Dingen des Lebens zugewandten Lebemann und lebensfrohen Familienvater, der gastfreundlich war und gerne genoss (was natürlich bestens in die Landschaft passt, der sich diese Internationalen Musiktage verschrieben haben). So beginnt es geistlich und beschwingt mit Schemellis „Dir, Dir Jehova will ich singen“ (BWV 299), später erklingen unter anderem „Brunnquell aller Güter“ (BWV 445), „Dich bet ich an“ (BWV 449) und „Ich freue mich in Dir“ (BWV 465).
Ob anmutig oder andachtsvoll: Klaus Mertens macht mit seinem Gesang aus jedem kleinen Schatz einen großen. Sein Bassbariton hat in den Jahrzehnten, in denen sich dieser Sänger als einer der besten behauptet, kein Jota an Eindringlichkeit verloren. Vergleicht man die stimmliche Intensität des Abends mit denen der ersten Bachkantaten, die er mit Ton Koopman aufgenommen hat, hört man keinen Unterschied. Kernig und zupackend, dabei aber zart und unglaublich fein klingt Mertens Stimme, die kraftvoll in die Tiefe schwingt und mühelos tenorale Höhen tangiert. Und immer taucht der Künstler vollkommen in das Lied ein: In Schemmelis „Komm süßer Tod“ gleicht sein Ton im Pianissimo einer zärtlichen, tröstenden Umarmung, aus der man sich nicht mehr lösen möchte – atemlose Stille im Publikum goutiert diese Geste.
Ton Koopman spielt Orgel und Cembalo – zwei Instrumente, die er eigens aus seiner umfangreichen Sammlung mit nach Saulheim gebracht hat. Aber er begleitet eben nicht nur: Auch bei Schemelli oder Stölzels Aria „Bist Du bei mir“ ist er der einfühlsame Liedpianist, der seinen Partner perfekt ergänzt. Noch deutlicher wird dies in Rezitativ und Arie aus der Solokantate „Ich habe genug“ (BWV 82), mit der das Festival einen schönen Bogen zum Eröffnungskonzert spannt, in dem Altus Andreas Scholl dieses Stück mit dem Neumeyer Consort musizierte: An diesem Abend bekommt „Schlummert ein, Ihr matten Augen“ noch mal einen persönlicheren Charakter. Mertens wird im kommenden Jahr 75 Jahre alt, Koopman sogar 80, doch die Musik ist für sie ganz offenbar ein Jungbrunnen, dessen köstliches Wasser beide großzügig versprühen und daraus Wein respektive einen knackigen Winzersekt machen.
Koopman spielt von Böhm auf dem Cembalo Präludium, Fuge und Postludium in g-Moll und an der Orgel Buxtehudes C-Dur-Fuge (Bux WV174). Als hätte er ein Metronom verschluckt lässt der Künstler die Musik perlend fließen, ohne dass es auch nur einen Augenblick lang mechanisch klingt. Hier fühlt einer die Musik und dupliziert den legeren Schwung und die Brillanz des Sängers: Wo Mertens in seinen Liedern nicht nur singt, sondern auch erzählt, bleibt es bei Koopman ebenfalls nicht beim Spiel, sondern wird Vortrag, wächst die Musik in eine virtuose Mehrdimensionalität, wie man es selten erlebt. Was selbst bei so „kleinen“ Stücken wie dem G-Dur-Menuett (BWV 114) aus Bachs Notenbüchlein funktioniert, das wohl wirklich jeder Klavierschüler schon gespielt hat.
Nach drei launigen Sonaten von Domenico Scarlatti, die Koopman wunderbar verspielt auf der einmanualigen Truhenorgel musiziert, singt Mertens die Arie „Sooft ich meine Tobackspfeife“ (BWV 515a). Und wie larmoyant er der Metapher nachsinnt, die das menschliche Leben mit dem tönernen Rauchgerät vergleicht, ist ganz großes Theater! Zwei weitere Gesänge beschreiben Bachs weltlichen Charakter ebenso treffend: die Arie „Willst Du mein Herz mir schenken“ (BWV 518) und die kleine Kantate „Amore traditore“ (BWV 203).
Nach dieser Oper en miniature entlassen Klaus Mertens und Ton Koopman das begeisterte Publikum mit einem weiteren Schemelli: „Der Tag ist hin“. Und schöner könnte er tatsächlich kaum enden. In Erinnerung an die pointierte „Tobackspfeife“ kommt einem der Werbeslogan einer berühmten Pfeifenmarke aus den 1970er-Jahren in den Sinn. Damals hieß es: „Drei Dinge braucht der Mann: Pfeife, Feuer, Stanwell.“ Nach diesem Konzert weiß man, was der Liebhaber barocker Klänge nicht missen mag: Koopman, Mertens, Bach.