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Gewitter in Windeseile

MAINZ (4. Juni 2022). Große Musikkünstler versichern nicht nur ihr Instrument: Auch für ihre Extremitäten, mit denen sie ihrem Werkzeug die Töne entlocken, sind sie zuweilen Assekuranz-Kunden, um im Fall der Fälle abgesichert zu sein. Zum Glück war dem Solisten des letzten Mainzer Meisterkonzerts der Saison Julian Rachlin (und seiner Stradivari aus dem Jahr 1704) nichts Schlimmeres zugestoßen, doch eine Muskelzerrung ließ ihn den Programmtitel „Beethoven pur!“ Lügen strafen: Das berühmte D-Dur-Violinkonzert op. 61 hätte mit seinen bald 45 Minuten Aufführungsdauer eine zu große Strapaze für den Geiger dargestellt. Der spielte mit der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz stattdessen das G-Dur-Violinkonzert von Wolfgang Amadeus Mozart, während der zweite Teil des Abends mit der F-Dur-Sinfonie op. 68 „Pastorale“ Ludwig van Beethoven gewidmet blieb.

Das Orchester eröffnet das Meisterkonzert mit Mozarts Ouvertüre aus „Le nozze di Figaro“. Mit der hier köstlich wuselig gespielten Melodie weist der Komponist ja bereits darauf hin, dass es in seiner Oper nicht ohne Turbulenzen abgehen wird. Die von Rachlin auch dirigierte Staatsphilharmonie lässt sich vom quirlig-sprudelnden Charakter der Musik inspirieren und gestaltet die scharfen dynamischen Kontraste mit feiner Kontur: Alles scheint in Bewegung zu sein oder zu geraten. Und das Crescendo zum Ende hin zieht Rachlin äußerst effektvoll auf – eine Geste, die das Publikum auch in der Beethoven-Sinfonie erleben wird.

Davor aber spielt der Geiger das dritte Violinkonzert Mozarts und schenkt den Zuhörern in der Rheingoldhalle eine Begegnung mit dem zur Zeit der Entstehung gerade mal 19-jährigen Komponisten: elegant, witzig und geistreich. Schon das Allegro klingt feinsinnig und schlank. Rachlin korrespondiert mit dem Orchester, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Stattdessen hört er genau hin, was ihm die Kollegen da „erzählen“, und „antwortet“ entsprechend. Mit warmem Timbre spielt er ansprechend melodiös, die Solokadenzen gestaltet der Künstler höchst geschmackvoll.

Vor allem das Adagio von KV 216 entspricht dem, was der Mozart-Biograf Alfred Einstein über diesen Satz schrieb: Für ihn klang es „wie vom Himmel gefallen“ und Rachlins Pianissimo ist fast nurmehr zu erahnen. Das finale Allegro beendet mit seinem berauschenden Melodienreichtum das Konzert, das letzte Wort haben die weichen Bläser. Mozart selbst schrieb über diese Musik, sie „ging wie Öl“ – was auch auf das Zusammenspiel von Julian Rachlin mit der rheinland-pfälzischen Staatsphilharmonie zutraf.

War es den Tag über schon drückend schwül, entlud sich doch kein Gewitter über Mainz. Oder doch? In der Rheingoldhalle brodelt es doch recht heftig, wenn Beethoven in seiner sechsten Sinfonie das Gewitter nahen lässt. Rachlin zieht das Tempo im Allegro des vierten Satzes mächtig an, das Orchester folgt sozusagen Instrument bei Fuß. Die Programmmusik, die Beethoven hier geschrieben hat, lädt ein zum Dramatisieren. Und das hier entstehende Tongemälde fällt denn auch in packend grellen Farben aus. Im Anschluss an das orchestrale Unwetter gönnt Rachlin dem Publikum Idylle pur, nach den spannungsgeladenen Klangballungen kann man befreit durchatmen – eben wie nach einem abkühlenden Regenguss. Und im begeisterten Schlussapplaus schwingen sicherlich auch herzliche Genesungswünsche für den gezerrten Muskel mit.

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