Mitleid mit dem Monarchen
Autsch! Es war wahrscheinlich noch viel schrecklicher, als es Jakob Rattinger da auf seiner Gambe spielt: „L’opération de la taille“ heißt das Stück von Marin Marais und beschreibt eine Blasenstein-OP an Ludwig XIV., der der Komponist die zweifelhafte Ehre (weil Pflicht) hatte beizuwohnen – Privatsphäre gab es für den Monarchen damals bewusst nicht. Das Stück ist nur kurz, aber voller hörbarer Symbolik: Läufe, Tonleitern nach oben und unten, Floskeln, Tremoli.
Da ist das Zittern des Patienten beim Anblick des Operationstisches, der Entschluss hinaufzusteigen, das Festbinden und die eigentliche Operation. Dem Patienten, den die Gambe zuvor laut aufschreien lässt, bricht irgendwann die Stimme, dargestellt durch einen hohen, langen, aber äußerst leisen Ton. Das ausfließende Blut wird fünf Takte lang durch absinkende Halbtöne, den Lamento-Bass dargestellt: OP gelungen, der ohnmächtige Patient wird zu Bett getragen.
Es macht Rattinger hörbar Spaß, die Pein mit Marais‘ Musik darzustellen. Durch das Zwischenrufen der in der Partitur vermerkten Überschriften, was gleich passiert, wird das Stück zu einem kleinen Drama, einem Minihörbuch, das einerseits ein Stück Historie erzählt, zum anderen aber den makabren Witz in der Tonkunst dieses großen Meisters dokumentiert. Und wenn die dann ein Künstler von solchem Format spielt, wird Alte Musik äußerst lebendig. Und aktuell: Was man heute, hat man einen etwas „exklusiven“ Geschmack, vielleicht auf YouTube anschaut, haben die barocken Meister schon vor fast 300 Jahren vertont.
Das Konzert des Mainzer Musiksommers in der St. Antonius-Kapelle trägt den Titel jenes Spielfilms, der das Lernen des jungen Marais beim großen Gambenvirtuosen Mr. de Sainte Colombe erzählt: „Die siebente Saite“. Hierfür hat Rattinger, der mit Olga Watts (Cembalo) und Thomas Boysen (Theorbe und Barockgitarre) auftritt, Musik verschiedener Meister des Barock ausgewählt: Neben den Genannten sind dies Robert de Visée, Antoine Forqueray, Louis de Caix d’Hervelois und Jean-Henri D’Anglebert. Aufgespannt wird ein bezauberndes wie kurzweiliges Klangpanoptikum, das jedem der Interpreten eine Bühne bietet – sowohl solistisch als auch im Ensemble.
Und man erlebt Meister ihres Fachs: Im Tutti (das ja tatsächlich nur aus drei Instrumenten besteht!) reißen sie das Publikum in einen Klangstrudel, bei dem einen zum Glück nur das Sehen vergeht, so wirbeln die Finger der Künstler auf Tasten und Griffbrett herum. Die Akkorde von Gambe und Theorbe sind volltönend, das Cembalo untermalt silbrig flirrend: Die (Alte) Musik ist hier in steter Bewegung, lebendig, geradezu neu. Mit zupackendem Forte und feinsinnigem Piano, aber auch agogisch agiert das Trio, das sich offenbar blind aufeinander verlassen kann – dass das Publikum nach jedem Stück klatscht, ist war etwas nervend, aber auch irgendwie verständlich.
Was man bei aller Spielfreude in jedem Moment spürt, ist die große Bewunderung, der tiefe Respekt, den Watts, Boysen und Rattinger dieser Musik bezeugen. Besonders intensiv ist das im „Tombeau pour Monsieur St. Colombe“ von Marais zu spüren: Der Meister erweist seinem Meister mit diesem „musikalischen Grabstein“ die Ehre, was im eindringlichen, fast schon intimen Spiel der drei Musiker hörbar wird. Marais hadert offenbar mit dem Schicksal seines Lehrers, was Rattinger mit geradezu trotzigem Bogenstrich ausdrückt. Durch solche Details wird jedes Prelude, jede Chaconne (wovon man gleich drei genießen darf) zum Erlebnis, was natürlich besonders für Marais‘ Stücke „Les Voix humaines“ und „La Rêveuse“ gilt – letzteres spielt im Film „Die siebente Saite“ eine wichtige Rolle.
Die Filmzeitschrift Cinema lobte den 1992 gedrehten Streifen als „Kinomoment voller Sinnlichkeit und Magie“. Hier interpretiert Rattingers Kollege Jordi Savall die Musik, wobei deutlich auffällt, dass die Mimen (wie so oft) völlig andere Töne greifen, als sie vermeintlich spielen. In Mainz war das anders: Hier stimmte einfach alles für einen „Konzertmoment voller Sinnlichkeit und Magie“.
Der SWR hat das Konzert aufgenommen und wird den Konzertmitschnitt am 17.Oktober 2022 ab 13.05 im SWR2-Mittagskonzert senden.