Klänge zum Träumen
MAINZ (24. Juli 2024). Seeschwalben leben meist an Meeresküsten und legen auf ihrer Reise in ihr Winterquartier große Strecken zurück. Die lateinische Bezeichnung dieses Zugvogels ist laut des gleichnamigen Ensembles Hirundo maris. Und auch das „Zugverhalten“ der Künstler um die Sängerin und Harfenistin Arianna Savall gleicht dem der Möwenverwandten: Sie reisen von Bühne zu Bühne und traten jetzt beim Mainzer Musiksommer auf, wo Sawall schon öfters mit ihrem Partner Petter Udland Johansen zu Gast war. Diesmal waren sie mit Ian Harrison und Miquel Angel Cordero in der Seminarkirche zu hören.
Das Programm heißt „Chants du sud et du nord“ und umfasst traditionelle Gesänge und Musiken aus Norwegen, Spanien, England, Italien – alles Seefahrernationen, die nicht nur ihre Waren, sondern auch ihre Lieder über die Weltmeere trugen. Den Beginn macht ein Gesang der Hildegard von Bingen, die im Jahr 1098 gar nicht weit von Mainz im rheinhessischen Bermersheim vor der Höhe geboren wurde. Es ist ein gelungenes Entrée der musikalischen Reise, auf die die Musiker ihr Publikum mitnehmen.
Bereits hier kommt es zu einer faszinierenden akustischen Paarung von Savalls kraftvoll-ätherischem Sopran mit Harrisons Zink, der die Stimme imitierend übernimmt, so dass man plötzlich gar nicht mehr weiß, von wem der Ton kommt. Er erhebt sich strahlend schön ins Kirchenschiff der Seminarkirche, die sich mit ihrer Akustik für diese Musik geradezu empfiehlt. Ein obertöniges Bassinterludium leitet über zu weiteren Nummern.
Im selbst arrangierten Volkslied „Benedik og Arolija“ gefällt Johansen mit einem rezitativen Gesang, der zuweilen ins gesprochene Wort mäandert. Nordisch klar ist der Tenor des Norwegers, der vom Flötenspiel Harrisons umspült wird wie Füße bei einem Strandspaziergang von auflaufenden Wellen. Neben Blockflöte und Zink spielt Harrison den Abend über auch noch den Dudelsack, Johansen Geige, kleine Harfe und Mandoline, Savall die große Harfe und Cordero den Kontrabass – „nur“ vier Musiker, die einem aber das Gefühl geben, als wären hier noch viel mehr Künstler am Werk.
Die Gesänge, die sich meist um die Liebe drehen, lassen tatsächlich die Zeit stillstehen, sind also buchstäblich zeitlos. Instrumente korrespondieren miteinander: Harfe und Mandoline, Zink und Singstimme, Geige und Flöte. Es ist Musik zum Träumen, ja zum Abtauchen in die klanglichen Wellen, die „Hirundo Maris“ da in der Seminarkirche auf- und ablaufen lässt. Die Verschmelzung von Alter Musik und Folklore basiert auf der Improvisation und an diesem Abend erlebt das Publikum eine Meisterin und drei Meister dieses Fachs.
Statt perfekt intoniertem Belcanto steht hier die Empfindsamkeit, das bewusste Fühlen und Gestalten des Klangs im Mittelpunkt. Und so ist es auch gar nicht schlimm, dass man im gesungenen Sprachgewirr des ersten Teils zuweilen die Orientierung verliert, wo man denn nun gerade im Programm ist, bis das amerikanische Traditional „Oh Shenandoah“, ein Klassiker im aktuellen Chorrepertoire, wie ein Leuchtturm die Position bestimmt – hier vom instrumental begleiteten Gesang in die A-cappella-Darbietung schippernd.
Die Künstler – allen voran natürlich Arianna Savall und Petter Udland Johansen – erzählen mit ihren Liedern Geschichten und man wähnt sich in einem familiären Kreis, in dem Märchen und Sagen die Runde machen: Gibt es das noch, dass jemand wie in „Astri, mi Astri Seksturen“ einfach so von einer Jugendliebe singt? Ja, bei „Hirundo Maris“ – und zwar so, dass es berührt, wie selbstverständlich klingt.
Am besten in die Zeit passt wohl Francesco d’Assisis „Preghiera“, jene bekannte Bitte darum, von Gott zum Werkzeug seines Friedens gemacht zu werden, um Hass, Streit, Irrtum, Verzweiflung und Finsternis mit Liebe, Versöhnung, Wahrheit, Hoffnung und Licht entgegenzutreten. Das Arrangement von Arianna Savall klingt eindringlich und anrührend – wie eigentlich alle „Chants du sud et du nord“ an diesem Abend.
SWR Kultur sendet einen Mitschnitt dieses Konzerts am 18. November 2004 um 13.05 Uhr.