Kunstvoll verwobene Polyphonie
EBERBACH (18. Juli 2010). Purismus hin oder her: Ob die Marienvesper Claudio Monteverdis nun für großen Chor, kleines Vokalensemble oder doch nur für Solostimmen geschrieben wurde, beschäftigt seit jeher die Gemüter. Doch wozu? Wenn sich, wie jetzt im Rahmen des Rheingau Musik Festivals, ein vokaler Klangkörper wie der RIAS-Kammerchor anschickt, die „Vespro della Beata Vergine“ anzustimmen, erübrigt sich eigentlich jegliche Diskussion.
Zumal Dirigent Hans-Christoph Rademann so klug war, nicht immer „mit voller Truppe“ zu singen, sondern auch in den Chorpartien immer wieder alternierende Besetzungen antreten ließ. Dies verlieh der Farbpracht, die durch die Akademie für Alte Musik Berlin und das Solistenquintett – Maria Cristina Kiehr und Gerlinde Sämann (Sopran), James Elliott und Andreas Karasiak (Tenor) sowie Harry van der Kamp (Bass) – ohnehin schon in leuchtender Intensität daherkam, weitere, berauschend schillernde Facetten.
Schon mit den ersten Unisono-Akkorden des „Domine ad adiuvandum“ scheint sich der Chor in der Basilika von Kloster Eberbach umzuschauen und mit Verve die mächtigen Säulen nachzuahmen. Und schon ist man bei einem zweiten Knackpunkt dieser Musik: Ist sie rein geistlich oder auch, wie Monteverdi selbst voranschickte, „für die fürstliche Kammer“, also das weltliche Publikum gedacht? Auch hier gibt das ja eher säkulare Musik Festival die eindeutige Antwort eines Sowohl-als-auch: Vor jedes neue Stück setzte eine tenorale Schola Versikel und fasste die Vesper so zu einem innigen Gebet zusammen, das auch den Kirchenfernen in seinen Bann zu schlagen verstand.
Abgesehen davon, dass Hans-Christoph Rademann gerne etwas mehr dynamisch hätte schattieren können, überzeugte der RIAS-Kammerchor mit einem satten, kraftvollen Ton. Aus den Reihen des Ensembles gesellten sich im Konzertverlauf auch zahlreiche Solisten zu den Genannten und ergänzten diese makellos und klangfarbig.
Ein Begriff tauchte immer wieder vor dem geistigen Auge auf: der des ineinander Verwobenseins. Denn das war es, was diesem Abend seinen besonderen Glanz verlieh – ob im Duett, Terzett oder Quartett und selbstverständlich auch in den prächtigen Doppelchören, die die Sänger in frontaler Gegenüberstellung intonierten: Stets ergaben sich einem klingenden Kaleidoskop gleich herrliche Modulationen, von denen eine jede fließend und kunstvoll ausgesungen wurde. Chor, Solisten, Orchester – Rademann hatte hier zweifelsohne drei exquisite, homogene Ensembles bei der Hand, die einander passgenau ergänzten und miteinander zu einem großartigen Klangkörper verschmolzen.
Wen mag man da herausgreifen? Die beiden zarten Soprane Kiehrs und Sämanns? Das Strahlen von Elliotts Tenor, der die Verzierungen in seinen Partien in höchster Perfektion gestaltete? Das anregende, leicht-schwingende Tremolieren Karasiaks in „Duo Seraphim“? Den sattfarbenen Bass van der Kamps? Oder das erhabene Zusammenspiel von Chor und Instrumentalisten im eindringlichen „Sancta Maria“ der sechs Sopranstimmen, flankiert von meisterlichen Instrumentalsolisten oder im zarten „Ave maris stella“? Man könnte sich in dieser Aufzählung schier verlieren.
Die Marienvesper Claudio Monteverdis war ohne Zweifel einer der Höhepunkte der venezianischen Mehrchörigkeit und gleichzeitig der Beginn von etwas Neuem, dereinst Unerhörtem: Das tonale Konfrontieren verschiedener Ensembles und Chöre, die Technik der „cori spezzati“ sowie das Mischen diverser Instrumente und Klangfarben war an sich nichts Neues; Monteverdi aber führte all diese Stilelemente in seiner Marienvesper erstmals zu einem überzeugenden Ganzen zusammen.
Der Erfolg des vor genau 400 Jahren fertiggestellten Werkes war anfangs jedoch nicht gerade berauschend: Der Widmungsträger, Papst Paul V., zeigte sich über diese neuen Strömungen in der Musik alles andere als begeistert und verweigerte dem inspirierten Tonsetzer gar die erbetene Audienz. Manches ändert sich eben nie…
Das Konzert wurde vom Deutschlandfunk mitgeschnitten und wird am 19. September 2010 um 21.05 Uhr als „Konzertdokument der Woche“ gesendet.