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Nur das Talent im Fluchtgepäck

MAINZ (10. September 2023). Gibt man nur den Komponistennamen Chopin in die Suchmaske der Onlineplattform YouTube, erhält man natürlich unzählige Angebote, seine Musik zu hören: gespielt von großen Namen, routinierten Pianisten oder unbekannten Amateuren.

Ein wenig sollte man es wohl eingrenzen, wobei hier natürlich ein bestimmter Name hilft. Wie der von Antuanetta Mishchenko: Auf YouTube kann man rund 50 Videos der Pianistin sehen und hören. Darunter eben Chopins Walzer. Aufgenommen ist das Ganze meist auf einem etwas in die Jahre gekommenen Ibach-Flügel. Und der steht im Atelier der Künstlerin Christiane Schauder. Doch wie kommt Antuanetta Mishchenko ausgerechnet an diesen Ort im Souterrain von Schießgartenstraße 10 in der Mainzer Neustadt?

Zuvor lebte die dreißigjährige Pianistin in Kiew. In einer Nacht im März 2022 hörte Mishchenko ein Geräusch, das ihr Angst machte. Und gleich darauf, wie die anderen Mieter das Haus eilig verließen. Der Krieg war auch bei ihr angekommen. Schnell raffte sie ein paar Sachen zusammen. Reisepass? Fehlanzeige. Nur ihren ukrainischen Ausweis nahm sie mit. So begann ihre Flucht, die sie tagelang durch Osteuropa führte: die Westukraine, Polen, bis nach Deutschland. Ihre guten Englischkenntnisse halfen ihr dabei, immer wieder bei anderen Kriegsflüchtlingen mitzufahren, die ihrerseits froh über eine Dolmetscherin waren.

Mishchenko schaffte es bis nach Mainz, wo sie einen Menschen kennenlernte, der ihr helfen wollte – einen von vielen, wie sich in den folgenden Wochen und Monaten herausstellen sollte: Martina Schulz hatte bei YouTube ein Video der Pianistin gesehen, das diese noch in Kiew produziert hatte. Sie bot an, ihr beim Beschaffen von nötigen Dokumenten zu helfen. So kam auch der Kontakt zum Kulturdezernat zustande, das sich wiederum an Christiane Schauder wandte: Hatte die bildende Künstlerin nicht einen Flügel in ihrem Atelier stehen, auf dem Mishchenko üben könnte? So kam eins zum anderen. Und die Pianistin sogar zu einer Dozentenstelle am Peter-Cornelius-Konservatorium der Stadt Mainz, wo ihr die stellvertretende Direktorin Carina Stamm beim Ausfüllen von Dokumenten geholfen hatte. Irgendwie hat sich aktuell alles gefügt im Leben der Künstlerin, die ihre Flucht vor dem Krieg und ihr Fußfassen in Mainz als Wendepunkt in ihrem Leben sieht und heute vor allem eins ist: unendlich dankbar für die vielen Menschen, die sie dabei unterstützt haben.

Zum Gespräch trifft man sich im Atelier von Christiane Schauder. Antuanetta Mishchenko hat inzwischen gut Deutsch gelernt. Nur selten fallen ein paar englische Begriffe. Zwischen fertigen Bildern und entstehenden Kunstwerken erzählt die Musikerin von ihren Anfängen als Pianistin: Mit fünf Jahren begann sie zu spielen, mit sieben hatte sie mit einem einstündigen Benefizkonzert ihren ersten großen Auftritt, mit zwölf begann sie ein Studium bei Prof. Valeriy Kozlov in Kiew, 2017 legte sie an der Nationalen Tschaikowsky-Musikakademie ihr Examen ab. Konzerte führten Mishchenko nach Europa, Asien und in die USA. Sie gewann diverse Wettbewerbe und nahm an Meisterkursen renommierter Kollegen teil.

Nun könnte man meinen, der Weg zu einer Karriere als Musikerin sei vorgezeichnet, schließlich ist der Name von Antuanetta Mishchenko in der Ukraine nicht unbekannt: Als es im Winter 2013/2014 in ihrer Heimat zu den Maidan-Demonstrationen und der Besetzung der Krim durch Russland kam, nahm die Pianistin mutig an Kunstaktionen und Straßenkonzerten teil, um die Proteste zu unterstützen. Hierüber machte eine polnische Regisseurin einen Film, in dem auch Mishchenko zu sehen ist. Als sie in Mainz ankam, kannte man sie dort jedoch nicht als Musikerin, wenn man sie nicht zufällig im Internet entdeckt hatte. Und genau diesen Status wollte Mishchenko bewusst nutzen, um mit ihrer Musik nicht nur das ohnehin interessierte Konzertpublikum anzusprechen: „Ich bin Musikerin – für alle Menschen.“

Das möchte sie auch ihren jungen Schülerinnen und Schülern am Konservatorium beibringen: Nicht für die Lehrerin zu lernen, sondern für sich; Ziele zu entdecken und sie mit intensiver Arbeit zu verfolgen. „Talent alleine reicht nicht“, sagt Mishchenko. Vor allem Selbstbewusstsein brauche es: „Zu wissen, dass ich etwas kann, richtig gut kann.“ Dies zu vermitteln ist Ziel der Pianistin, die die musikalische Ausbildung als etwas Ganzheitliches betrachtet. So ist für sie nicht nur die Musik alleine wichtig. Mit besonders begabten und interessierten Schülerinnen und Schülern bespricht sie daher auch Fragen des Auftretens, sogar die geeignete und passende Konzertkleidung ist dann Thema. Zusammen werden Videos und Fotos gemacht. Diese Aufnahmen sieht Mishchenko als wichtigen Baustein ihres Unterrichts, spielen sie doch eine entscheidende Rolle für die mögliche künftige Karriere der Schülerinnen und Schüler. In deren Reihen finden sich auch junge Landsleute.

Den Grundstein für die Lehrtätigkeit legte 2020 ein seelisches Tief. Mishchenkos Spiel und damit auch ihre Karriere stockten – wo sollte der Weg hingehen? Sich nur aufs Konzertpodium beschränken wollte die junge Pianistin nicht mehr. Und so nahm sie mit einem Freund in Eigenproduktion eine erste CD mit Klavier-Tutorials auf. Via Instagramm startete sie mit einem Kollegen einen öffentlichen informativen Austausch über Komponisten und ihre Werke, schlüpfte also quasi in die Rolle der Moderatorin. In YouTube-Videos kann man die Dozentin aktuell auch mit Schülerinnen und Schülern erleben. Online-Tutorials sollen folgen. Zudem plant Mishchenko, auch internationalen Kulturaustausch und -management zu studieren. Ihr Traum ist eine Agentur, die weltweit talentierte Schülerinnen und Schüler ganzheitlich ausbildet und betreut.

Noch immer ist das Atelier von Christiane Schauder ein Ort, an dem Antuanetta Mishchenko täglich Klavier übt. Aus den für den Profi gewohnten neun Stunden sind allerdings drei geworden: Die anderen Mieter arbeiten mittlerweile auch mal im Homeoffice und schätzen das Können der Ukrainerin zwar, aber eben nicht rund um die Uhr. Erleben kann man Mishchenko daher vor allem im Netz, wo sie täglich ein Klavierstück präsentiert. Begonnen hat sie damit im Juli, das Projekt ist bis Dezember angelegt.

Seit August sind hier auch Videos mit Schülerinnen und Schüler der Ukrainerin zu hören: Sie spielen Werke des im ukrainischen Cherson geborenen Romantiker Samuel Maykapar. Für den Herbst plant die Pianistin dann Stücke ihres Landsmanns Viktor Kosenko und Robert Schumann. Fast jeden Tag ein Walzer des polnischen Komponisten mit dem französischen Namen im YouTube-Kanal von Antuanetta Mishchenko? Chopin würde das sicher liken.

Videos der Pianistin Antuanetta Mishchenko und ihrer atemberaubenden Chopin-Interpretationen kann man hier sehen und hören: https://www.youtube.com/watch?v=ln2ygyg4qnY&list=PL28XKPLPgCiNPaY8jagNWD5Wi8×2-8Ff8.

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