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„Wir stehen aktuell vor einem Scherbenhaufen“

OESTRICH-WINKEL (2. Mai 2020). Man kann, ja muss es als Katastrophe benennen: Die Pandemie hat dazu geführt, dass das 33. Rheingau Musik Festival 2020 jetzt ersatzlos abgesagt wurde.

Unter anderem über folgende Konzerte hätte man an dieser Stelle im Sommer Besprechungen lesen können: Voces8 in Hattersheim, Jan Lisiecki mit dem Chamber Orchestra of Europe und allen fünf Klavierkonzerten Beethovens im Wiesbadener Kurhaus, ein Gastspiel des Leipziger Thomanerchors in Kloster Eberbach, am gleichen Ort Daniel Hope und l’arte del mondo unter anderem mit Max Richters faszinierender Adaption von „Vivaldis Jahreszeiten“ sowie Gabriela Montero mit dem hr-Sinfonieorchester und Rachmaninovs zweitem Klavierkonzert wiederum im Kurhaus.

Mit folgenden Worten wenden sich die Verantwortlichen – Intendant und Geschäftsführer Michael Herrmann, Geschäftsführer Marsilius Graf von Ingelheim und Claus Wisser als Vorstandsvorsitzender des Fördervereins – an das Festivalpublikum:

Liebe Freunde des Rheingau Musik Festivals,

mit größtem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass der 33. „Sommer voller Musik“ vom 20. Juni bis 5. September 2020 nicht stattfinden kann. Diese Entscheidung folgt aus der erneuten Bestätigung der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder vom 30. April 2020, dass Großveranstaltungen einschließlich größerer Konzerte wie Festivals bis mindestens zum 31. August 2020 verboten sind, um gegen die Verbreitung des Corona-Virus (Covid-19) vorzugehen. So sehr der Ausfall der 33. Festivalsaison schmerzt, so sehr unterstützt das Festival die entschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie.

Die Absage des Festivalsommers trifft uns hart. Die gesamte Arbeit für diese Festivalsaison, an der 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit großem Einsatz und voller Begeisterung gearbeitet haben, soll umsonst gewesen sein. Schweren Herzens müssen wir auf all die Begegnungen mit Ihnen und die gemeinsamen Konzerterlebnisse in einmaligen Kulturdenkmälern verzichten. Und wir können nicht mehr Gastgeber für unsere wunderbaren Künstler und Ensembles sein. Das gab es in 32 Festivaljahren nicht und ist für uns noch immer unbegreiflich.

Die Corona-Krise stellt uns alle vor enorme Herausforderungen. Doch sie hat uns nicht unserer Leidenschaft und Zuversicht beraubt. Wir – das Festivalteam, die Künstler, das Publikum, die Sponsoren und alle weiteren Partner – haben in den vergangenen 32 Jahren viele gemeinsame musikalische Stunden miteinander verbracht und unvergessliche Konzerthöhepunkte im Rheingau erlebt. Wir werden auch gemeinsam die aktuelle Situation meistern und in diesen bewegten Zeiten zusammenstehen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geben ihr Bestes, um das Festival in eine sichere Zukunft zu führen. Die Gesellschafter beteiligen sich an der finanziellen Stabilisierung. Mit Hochdruck arbeiten wir daran, mit Ihnen im kommenden Jahr wieder einen „Sommer voller Musik“ feiern zu können! […]

Wir freuen uns darauf, bald wieder einmalige Konzertmomente mit Ihnen erleben zu können. Bleiben Sie uns gewogen und vor allem – bleiben Sie gesund!

In ihrer Botschaft weisen die Betreiber des Rheingau Musik Festivals auch darauf hin, dass die aktuelle Situation für das Unternehmen als privat finanzierter Veranstalter durchaus existenzbedrohend und man auf Solidarität mit seinem Publikum angewiesen sei. Daher bittet man offen, den Verzicht auf eine Rückerstattung bereits gekaufter Karten in Betracht zu ziehen oder auch Mitglied des Fördervereins zu werden. Auf der Homepage des Festivals werden verschiedene Möglichkeiten der Solidaritätsbekundung aufgelistet – mit einer klugen Bildidee: Ein Foto von einer Open-Air-Veranstaltung im Hof von Kloster Eberbach ist zweigeteilt – eine Hälfte, die über die Absage informiert, ist schwarzweiß, die andere mit dem Aufruf „Unser Festival soll bleiben!“ und der Bitte um Unterstützung farbig gehalten.

In einem fünfminütigen YouTube-Beitrag wendet sich Intendant Michael Herrmann direkt an sein Publikum und die Partner des Festivals. Der Mitgründer des Festivals berichtet dabei gefasst, jedoch spürbar emotional vom Ausfall der über 140 Konzerte: „Sie sehen mich […] entsetzt, besorgt und zutiefst traurig, dass in dieser Festival-Saison keine einzige Note im Rheingau erklingen wird.“ Herrmann zeigt sich bestürzt, „dass die Arbeit von vielen Jahren mit einem Schlag wertlos geworden ist“. Man stehe aktuell vor einem Scherbenhaufen. Neben der erwähnten Bitte an Kartenkäufer spricht Herrmann auch direkt Unternehmen an, ob sie weiterhin oder künftig als Partner den Fortbestand des Festivals unterstützen möchten.

Sympathisch wie weitsichtig erwähnt der Intendant, dass viele freischaffende Künstler und Ensembles vor ähnlichen wirtschaftlichen Herausforderungen stünden: „Ihnen wurde mit dem Konzertverbot quasi die Lebensgrundlage entzogen.“ Daher versichert Herrmann, dass das Festival Teile der solidarisch erbrachten Leistungen an die neu geschaffenen Künstlernothilfefonds weiterreichen würden, sobald man das Festival finanziell stabilisiert habe: „Letztendlich geht es um die Rettung der Kultur in unserer Region.“

Die Videobotschaft von Michael Herrmann ist hier in ganzer Länge zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=Dj3tdhBB-tc

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