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Vokale Vollkommenheit

BOPPARD (15. Juli 2023). The Tallis Scholars sind eine lebende und singende Legende: Vor 50 Jahren wurde das Ensemble von seinem heutigen Leiter gegründet. Peter Phillips erhielt am St. John’s College in Oxford eine Ausbildung zum Organisten und gründete aus Mitgliedern von Kirchenchören in Oxford und Cambridge ein Alte-Musik-Ensemble, dessen anfänglicher Amateurcharakter bald einer bis heute viel gerühmten Professionalität wich. The Tallis Scholars sind Pioniere der historischen Aufführungspraxis: Ihr transparenter, homogener und ausdrucksstarker Klang berührt unmittelbar und prägte Generationen von Vokalensembles und Chören weltweit.

Dass sie nun bei RheinVokal in der wunderbaren Kirche St. Severus auftraten, war für die Freunde vokaler Renaissance-Musik so etwas wie der Sechser im Lotto. Alte Musik im alten Gemäuer hat ja immer eine besondere Wirkung. Und wenn man hier ein Konzert von The Tallis Scholars hört, in dem die ausgezeichneten Vokalisten Werke von Josquin des Prez, Giovanni Pierluigi da Palestrina und William Byrd singen, dann fühlt man sich vom ersten Ton an auf den Wellen dieser Musik davongetragen. Schon das Kyrie aus de Prez‘ Missa „Une mousse de Biscaye“, die von den anderen Stücken (darunter auch sein anrührendes „Stabat mater“) durchbrochen flankiert wird, strahlt eine ergreifende Erhabenheit aus. Klarheit und Schönheit sind die Stilmerkmale der gesungenen Werke wie ihrer Interpreten.

Wie heißt es in da Palestrinas Motette „Surge amica mea“: „Klingen soll Deine Stimme in meinen Ohren, denn sie ist süß.“ In diesem Konzert erlebt man einen absoluten Ensembleklang, der einfach begeistert: die Verdichtung in den Schlussakkorden gleich welcher dynamischen Schattierung, die Funken schlagende Spannung, mit der hier gesungen wird, die unglaublich lichten und weiten Bögen, mit denen Dirigent Peter Philips seine Sängerinnen und Sänger klingende Brücken bauen und gleichsam würdevoll beschreiten lässt, sowie eine dichte Verbundenheit aller einzelnen Stimmen mit- und untereinander. The Tallis Scholars, die hier mit Frauen- und Männerstimmen (und ohne Altus!) singen, schlagen einen mit jedem Ton in ihren Bann.

Unglaublich feine Linienführung ohne jedwedes Vibrato, die faszinierende Brillanz jeder einzelnen Stimme schaffen eine gläserne Transparenz, die bestechend homogen zum Oszillieren gebracht wird: In keinem Moment stellt sich eine Stimme vor oder über die andere(n), sondern singt absolut chorisch. Mit glasklarer Intervallführung, Diktion und Stimmkultur setzen die bis zu zehn Stimmen die Gedanken der Komponisten um. Fast braucht es keine Übersetzung der lateinischen Texte und die Glaubensinhalte werden in der Musik lebendig. Dabei ist die Dynamik nie eine Frage der Lautstärke, sondern der Dimension des musikalischen Ausdrucks: Ein Forte ist hier nicht laut, sondern bildet tonal das gleißende Licht der Sonne ab – ein Piano ist nicht einfach nur leise, sondern ähnelt dem kleinen, doch unglaublich warmen Schein einer einzelnen Kerze.

In der Welt toben aktuell Kriege, ereignen sich Katastrophen und wüten Krisen. Das alles war früher auch schon der Fall und verschwindet natürlich nicht, wenn Ensembles wie The Tallis Scholars diese Musik anstimmen. Aber darf man solches derart berührend schön hören, dann erfährt man – wie ja vielleicht die Menschen vor Zeiten – das genaue Gegenteil von Kriegen, Krisen und Katastrophen: Man erlebt wie im Agnus Dei aus de Prez‘ Missa oder in Byrds „Laetentur Caeli“, dass es Menschen gibt, die einen für eine kurze Zeit all das vergessen lassen und einen komplementären Augenblick des Einklangs schenken. Ihr Gebet wird quasi im Moment erhört: Lamm Gottes, erbarme Dich unser und gib uns Deinen Frieden.

Das Konzert wurde von SWR2 mitgeschniten und wird zu einem späteren Zeiptpunkt gesendet.

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