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Fernab liegt die Welt

WIESBADEN (25. Juli 2013). „In die Herzkammern der deutschen Romantik hineinlauschen“, will das Programm „Nachtwache“, das Dirigent Thomas Hengelbrock mit dem Balthasar-Neumann-Chor und Schauspielerin Johanna Wokalek jüngst auch für CD produziert hat. Das Rheingau Musik Festival bot den Künstlern nun die Bühne, um ebendies Ereignis werden zu lassen.

Als sich die musikalischen und poetischen Ausläufer der Romantik am Beginn des 20. Jahrhunderts stilistisch brachen, war von dem erst im Jahr 1908 begonnenen Sakralbau der Lutherkirche noch nichts zu sehen. Dennoch hätte das Rheingau Musik Festival kaum einen passenderen Aufführungsort für seine „Romantische Chornacht“ wählen können: Mit seinem im Jugendstil gehaltenen Dekor lädt das Gotteshaus zum Träumen, Sehnen und Schwärmen ein. Und was anderes lag den Dichtern und Komponisten der besungenen und besprochenen Epoche anderes am Herzen?

Der Beginn gehört dem gesprochenen Wort: Wokalek liest Joseph von Eichendorffs „Mondnacht“, spricht von Blütenschimmer und leise rauschenden Wäldern: „Und meine Seele spannte / weit ihre Flügel aus, / flog durch die stillen Lande, / als flöge sie nach Haus.“ Bekannte und unbekannte Texte durchwirken die Vokalwerke, binden sie, illustrieren sie und werden von ihnen untermalt.

Eduard Mörikes „Wintermorgen“, jene „flaumreiche Zeit der dunklen Frühe“ oder Heinrich Heines „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“, Clemens Brentanos „Zu Bacharach am Rheine“ oder Verse aus Novalis‘ „Hymnen an die Nacht“ – Johanna Wokalek ist nicht nur eine einfühlsame Schauspielerin, sie haucht auch den Texten jener Zeit eigenes Leben ein, vermag das Publikum in den Bann der Verse zu schlagen.

Ja, der Duktus des Textvortrags geht unter die Haut. Und doch: Es ist der Gesang, der die Romantik auf die Bühne zaubert: Mehr als jedes gesprochene Fort kann die Musik jenen Geist heraufbeschwören – und wenn sie von einem so exquisiten Ensemble wie dem Balthasar-Neumann-Chor angestimmt wird, sind dem Träumen, Sehnen und Schwärmen keine Grenzen mehr gesetzt.

Dieser Klangkörper darf weltweit seinesgleichen suchen, so perfekt ausbalanciert und nuancenreich wird hier musiziert: Der lichte Sopran auf warm-sattem Alt, der sonore Tenor auf kraftvollem Bass – bei unbedingter Durchhörbarkeit des Textes singt der Balthasar-Neumann-Chor so blutvoll und doch unangestrengt, dass keine Wünsche offen bleiben. Dabei agiert Thomas Hengelbrock weniger als Dirigent: Er ist ein Tonmaler, der mit sparsamer Gestik effektvoll Akzente setzt.

Staunend und zutiefst gerührt ob dieser Klangschönheit wandelt man mit dem Chor durch Johannes Brahms „Waldesnacht“, würdevoll erklingt Edvard Griegs „Pfingstlied“ aus „Peer Gynt“ und raubt einem durch grandioses Crescendo den Atem. In Friedrich Silchers „Loreley“ meint man dank des wiegenden Rhythmus‘ selbst Planken unter den Füßen zu haben, die Hengelbrock aber durch ein dramatisches Accelerando in den letzten beiden Strophen gleichsam unter einem hinwegreißt: Schiff in Not!

Immer weiter geht die romantische Reise: „Die Seele fliegt, so weit der Himmel reicht“, heißt es bei Mörike und bei Novalis: „Fernab liegt die Welt.“ Das tut sie an diesem Abend in der Tat und Regers „Nachtlied“ leitet den Schluss ein: „Wildes Herz nun, gute Nacht“ hörte man bereits bei Brahms aus der Feder Paul Heyses. Das „Abendlied“ von Josef Rheinberger treibt einem die Tränen in die Augen, so schön und innig, ehrlich und schlicht singt es der Chor. Und bevor Hengelbrock als Zugabe „Denn er hat seinen Engeln“ von Felix Mendelssohn Bartholdy anstimmt, ist mit Johann Abraham Peter Schulz der Mond aufgegangen. Man hätte ewig darauf warten können.

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