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Atemlos zum Kreuzeshügel

KIEDRICH (12. September 2014). Regelmäßig nimmt das Rheingau Musik Festival die großen Passionen von Johann Sebastian Bach ins Programm und entbindet sie damit dem Kontext der Passionszeit. Zu rein konzertanten Veranstaltungen werden die Aufführungen dadurch freilich nicht, sondern erinnern den Zuhörer auch nach Karfreitag an die der Musik innewohnende Botschaft, die in diesem Jahr so unvergleichlich durch den Evangelisten James Gilchrist erzählt wurde.

Doch vorab ein paar Gedanken zur Umsetzung dieses – zum Glück! – bereits unendlich oft gespielten Werkes, das nie etwas von seiner Attraktivität einbüßt – selbst wenn ihm manche Interpretation durch abenteuerliche Experimente zuweilen arg zu Leibe rückt. Denn dort, wo alles bereits ausprobiert scheint, reizt vor allem das Extrem. Und so nahm Richard Eggar mit der Academy of Ancient Music die Johannes-Passion in Kloster Eberbach über weite Strecken in einem atemberaubenden Tempo, das der Musik mehr raubte, als dem Hörer schenkte.

Keine Frage: Nicht jeder Choral muss zur meditativen Insel werden. Und ja doch: Die Turba-Chöre der wütenden Volksmenge sind selbstverständlich Antrieb das Tempo anzuziehen, um die ohnehin schon ergreifende Dramatik dieser Passion noch zu steigern. Doch Spannung braucht auch Entspannung. Zwar durfte man über die Wendigkeit von Chor und Orchester der Academy of Ancient Music wohlwollend staunen, doch auch die spitzeste Waffe wird bei ständigem Gebrauch schnell stumpf.

Da helfen auch keine theatralischen Generalpausen, wenn von Jesu Tod die Rede ist – nutzt man diesen Kunstgriff gar zwei Mal kurz hintereinander (nicht aber zwischen Schlusschor und -choral!), verpufft der Effekt und wirkt schal. Aber auch Eggars Interpretation verlieh vielen Partien selbst im Schnelldurchlauf berückend schöne Momente. Und allein Bachs Musik verzeiht vieles.

Schließlich waren da auch noch die Solisten des Abends, bei denen nur die Adaption des Christus durch Derek Welton (Bass) verwunderte: Die Interpretation seiner Rolle ließ den nachgiebigen und gelassenen Charakter des Heilands gerade in der Passionsgeschichte außer Acht und versuchte, ihm mit kraftvollem Timbre Leben einzuhauchen – allein die Art, wie der Jesus des Johannes-Evangeliums agiert, widerspricht diesem Impetus eigentlich von vornherein. Dafür gefielen Rosemary Joschua (Sopran) und Anna Stéphany (Mezzosopran) sowie Andrew Tortise (Tenor) – letzterer vor allem in der „Erwäge“-Arie.

Diese Johannes-Passion wurde also dennoch zu einem unvergleichlich schönen Klangerlebnis, was vor allem zwei Künstlern des Abends zu danken war: Peter Harvey gab nicht nur klug ausgelegt einen verunsicherten Pilatus, der sich um die Verantwortung für das Leben Jesu drückt, sondern sang die Bass-Arien mit einem so wunderbarem Ton, der berückte: das Arioso „Betrachte, meine Seel“, die „Eilt“-Arie und vor allem „Mein teurer Heiland“, zu der die Vokalisten ihren Choral wie von ferne sangen – einfach wunderbar!

Und dann eben James Gilchrist, der die Rolle des Evangelisten mit einer derart atemberaubenden und packenden Präsenz gestaltete, dass man recht lange (und notabene ergebnislos) nachdenken muss, ob man schon einmal Vergleichbares hören durfte. Wie dieser Sänger Petrus bitterlich weinen lässt, treibt einem selbst die Tränen in die Augen und wenn er davon singt, wie Pilatus Jesum geißeln lässt, möchte man sich fast ducken, um den Schläge auszuweichen.

Hier hatte jemand in der Tat etwas zu sagen, was wichtiger ist als alle Netzschlagzeilen oder Tweets. Und egal, was einem an diesem Abend vielleicht aufstieß – bei jedem Einsatz Gilchrists war es vergessen. Was blieb und bleibt, ist daher die Erinnerung an den Kreuzestod Jesu, der Bach in seiner Johannes-Passion eine so hoffnungsvoll-optimistische Wendung gegeben hat: Thank you, Mr. Gilchrist!

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