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Der Weg ist das Ziel

KIEDRICH (30. August 2014). Kaum ein Klavierwerk Johann Sebastian Bachs inspiriert die Pianisten weltweit so wie seine „Goldberg-Variationen“. Diesen Umstand nimmt das Rheingau Musik Festival zum Anlass, BWV 988 sozusagen als „work in residence“ immer wieder ins Programm zu nehmen. Im zehnten Teil seines Bach-Zyklus widmete sich jetzt Konstantin Lifschitz dieser Musik und führte den Zuhörer vielleicht näher an die Ideen ihres Schöpfers heran, als das Kollegen bisher vermochten.

Wer diesen Künstler kennt, der weiß, dass einen keine gefälligen Adaptionen erwarten, sondern ein Klavierspiel, das mit jedem Ton zum Kern der Komposition vordringen möchte. Und für diejenigen im Publikum, die Lifschitz noch nie oder noch nicht live gehört haben, gibt es vor den „Goldberg-Variationen“ sozusagen eine kleine Einführung in das eigenwillige Spiel des Pianisten: die vier Duetti BWV 802-805 aus Bachs „Clavier-Übungen“, zu denen auch BWV 988 gehört.

Der letzte Ton des ersten der vier Duette klingt noch nach, da greift Lifschitz mit Macht für das rasche Folgestück in die Tasten: Es scheint, als hätte die Schwingung des einen die Spannung des anderen generiert – wie ein Bogen ist die imaginäre Sehne gespannt, mit der der Pianist die Musik ins Visier nimmt. Lifschitz nähert sich Bach niemals ohne eigene Idee, wohl aber ohne ihn zwingend deuten zu wollen: Es kann durchaus beim reinen Notenspiel bleiben, mechanisch oder gar seelenlos klingt es nie. Bachs Musik steht stets im Mittelpunkt – unverrückbar.

Das, was jedoch umgestellt wird, ist der Blickwinkel: Lifschitz klopft jeglichen Putz von den Hörgewohnheiten und fräst bewusst jede romantische Verklärung, der das Bachsche Tastenwerk am Klavier gespielt gerne erliegt, hinweg. Was bleibt, ist die bloße und doch so grandiose Architektur der Komposition.

Lifschitz hat die „Goldberg-Variationen“ 1994 auf CD eingespielt und es ist noch immer eine wunderbare, eine überzeugende Aufnahme. Doch der Künstler war seinerzeit gerade mal 17 Jahre jung. Jetzt begab er sich erneut ins Studio und hat BWV 988 noch einmal auf Band gebannt. Wie sich das anhört, stellte er jetzt im ausverkauften Fürst-von-Metternich-Saal auf Schloss Johannisberg vor.

In den vergangenen 20 Jahren ist sein Spiel spürbar gereift. Und mit ihm ganz offenbar der Wunsch, die Musik, die er spielt, noch tiefer zu ergründen. Statt den Virtuosen und mit großer Geste „seine“ Interpretation zum Besten zu geben, nimmt Lifschitz den Zuhörer mit auf eine Reise in dieses faszinierende musikalische Bauwerk und schenkt immer wieder geradezu intime Einblicke in die Ideen des „Hausherrn“.

Die äußerst introvertiert vorgetragene Aria ist Grund- und Schlussstein zugleich: zwei Pole, zwischen denen Lifschitz seine geniale, von tiefem Kunstverständnis geprägte Vortragskunst auf die einzigartige Musik Bachs projiziert. Mal im rasant schnellen Lauf, mal mit pointierten, fast schon trotzig ironischen Kadenzen.

Anders als in der Einspielung aus dem Jahr 1994 hat der Künstler BWV 988 seziert und geht die Variationen einzeln an. Angesichts des fließenden Werkverbundes aus vergangenen Tagen mag man dies bedauern, doch auch für Lifschitz gilt: Tempora mutantur, nos et mutamur in illis – die Zeiten ändern sich und wir ändern uns in ihnen.

War man bislang geneigt, der einen oder anderen Interpretation das Prädikat der Referenz zuzugestehen, lockt einen dieser Abend aus der Reserve: Bach ist unergründlich und bietet auch und vor allem dem, der glaubt ihn zu kennen, immer wieder einen neuen Zugang. Lifschitz beansprucht nicht der Weisheit letzten Schluss und kommt ihm doch genau damit erstaunlich nah.

Da sind die festliche Ouvertüre, die strenge Fuge, das übertriebene Akzentuieren, um eine Figur hervorzuheben – und eben jene Perle des Werkes: die Variatio 25, deren rhythmische Struktur Lifschitz pulverisiert und sich Ton für Ton vorantastet. Kann man die zartbittere Melancholie gerade dieses Satzes damit ergründen? Eine derartige Adaption wirkt durchaus befremdlich, zeigt dem Zuhörer allerdings auch, wie sehr jede Interpretation „work in progress“ ist. Und so ist hier der tiefe Respekt, den Lifschitz Bachs Musik entgegenbringt, buchstäblich in jeder Note zu hören.

Leicht spöttisch nimmt der Künstler die Anekdote, nach der es sich bei den „Goldberg-Variationen“ um eine bei Bach bestellte und fürstlich entlohnte Schlummermusik für Graf Hermann Carl von Keyserlingk gehandelt hätte, auf und drosselt das Tempo der letzten Variatio einer auslaufenden Spieluhr gleich, bis mit Mühe der letzte Ton erklingt.

Konstantin Lifschitz spielt nicht nur meisterhaft Klavier, sondern er erklärt durch sein Spiel Musik, ohne selbst sprechen zu müssen. Manches mag auf das erste Horchen verstören, manchem mag man widersprechen oder sich bei anderen Interpreten gleichsam Rat holen wollen. Doch nicht zuletzt durch die bewusst provozierte Kontroverse hat die Musik Leben eingehaucht bekommen – und das nicht nur für einen Abend. Seltsamerweise stellt sich nach einem solchen Konzert gar nicht die Frage, ob es einem denn nun gefallen habe – sie wirkt irgendwie oberflächlich.

Die 1994 bei DENON erschienene Aufnahme der von Konstantin Lifschitz eingespielten „Goldberg-Variationen“ ist aktuell nur noch partiell im Onlinehandel erhältlich; seine Neueinspielung erscheint 2015 bei ORFEO.

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