Chorklang, der mit sanftem Zugriff packt
WIESBADEN (24. Juli 2014). Seltsam: Man ist noch immer geneigt, Martin Lehmann als den „neuen“ Leiter des Windsbacher Knabenchors zu bezeichnen, dabei steht der versierte Chordirigent dem Ensemble bereits im dritten Jahr vor – und das, wie das Gastspiel zum Rheingau Musik Festival in der Wiesbadener Marktkirche zeigte, mit ruhiger, selbstbewusster Hand. Wenn sich, wie hier, tiefes Musikverständnis dazu gesellt, kann Großartiges entstehen.
Auf dem Programm stehen „die üblichen Verdächtigen“: Felix Mendelssohns Psalmvertonungen „Jauchzet dem Herrn“, „Richte mich Gott“ und „Warum toben die Heiden“, Heinrich Schütz‘ „Verleih uns Frieden gnädiglich“ und Gottfried August Homilius‘ „Domine, ad adjuvandum me“. Sicheres Terrain also für die Windsbacher – und doch überrascht Lehmann gerade mit diesen Werken von Grund auf! Solche Musik gehört zum Repertoire, gewiss. Und jeder Windsbacher singt sie im Laufe seiner Chorkarriere sicherlich mehrere hundert Mal in Konzerten, Proben nicht mitgezählt. Lehmann aber musiziert – traumhaft leicht, transzendent und mit einer Dirigierbewegung, der jede Kraftmeierei fehlt. Das überträgt sich sicht- und hörbar auf den Chor, der gerade den Mendelssohn so singt, als wäre es eine Premiere. Und den Homilius erst! Lehmann setzt voll auf dynamische Finesse und agogische Gestaltung.
Auch er ist in der Romantik zuhause, das hört man. Die Überleitung zur Neuentdeckung Johann Staden, dessen doppelchöriges „Deutsches Magnificat“ erklingt, ist stilistisch abenteuerlich, aber durchaus apart, denn auch den Schütz nimmt Lehmann romantisch. Darüber kann man streiten, aber man darf diese eigenwillige Auffassung auch einfach mal genießen – und das „Alte“ mit neuen Ohren hören. Bei Staden begeistern zuerst die Solisten aus den eigenen Reihen – dass in Windsbach immer wieder so begnadete Stimmen heranreifen, ist ein echtes Geschenk. Der Musik zwischen Spät-Renaissance und Frühbarock hauchen Lehmann und seine Jungs packend Leben ein und deuten den Text durch beseelten Klang und genaue, aber nicht erzwungene Artikulation.
Eingebettet zwischen zwei geistliche Partien stehen deutsche Volkslieder. Und hier rührt es einen zutiefst: Wie die Knaben Musik und Text verinnerlichen, ist einfach grandios. Auch hier besticht Lehmanns Gelassenheit, mit der er trotzdem zu höchster Leistung anzufeuern vermag. Herrschte früher zwischen Chor und Dirigent eine auf unbedingte Perfektion bedachte Spannung, scheint heute eher das Musikantische im Mittelpunkt zu stehen. Da ist das tänzerische „Kommt, ihr G’spielen“ von Melchior Franck, da ist das bekannte Echo-Lied Orlando di Lassos mit solistisch besetztem Fernchor, da sind Mendelssohns „O Täler Weit, o Höhen“ und Johannes Brahms’ „Waldesnacht“ – allen Sätzen verleiht Lehmanns Interpretation etwas geradezu Plastisches. Und nicht erst als die Männerstimmen Friedrich Silchers „Lindenbaum“ und „In einem kühlen Grunde“ anstimmen, bekommt man feuchte Augen.
Im zweiten Teil dann noch mal Mendelssohn und Johann Sebastian Bachs Motette „Ich lasse Dich nicht.“ Auch hier unterstreicht der Gesang dezent und daher umso deutlicher die Textgrundlage der Vertonungen – unaufgeregt, aber mitreißend: „Sende Dein Licht“, singt der Chor in Psalm 43 mit gleißendem Strahlen und die Worte „Was betrübst Du Dich, meine Seele?“ darf man, umfangen von einem derart berührendem Chorklang, getrost als rhetorische Frage verstehen. Flankiert werden die Chorstücke von Musik für Orgel und Trompete, gespielt von Arvid Gast und Joachim Pliquett. Sein Ansatz ist butterweich und klar, erinnert fast ein wenig an den samtigen Ton Chet Bakers – eine schöne Ergänzung des Chorprogramms mit seinem romantischen Schwerpunkt.
Man merkt Lehmann nach dem Konzert an, dass er mit der Leistung „seiner Jungs“ zufrieden ist und die dürfen stolz auf dieses Konzert sein. Schmerzlich wird einem bewusst, dass es sich hier um eine Momentaufnahme handelt, hat es der Dirigent nach den Sommerferien doch wieder mit einem „neuen“ Chor zu tun. Doch der neue Geist, der offenbar in Windsbach weht, macht optimistisch, dass Lehmann auch weiterhin so wundervoll Musik machen wird.
In der Pause erhielten er und seine Windsbacher dafür übrigens ein Lob, das jede noch so positive Kritik blass aussehen lässt – ein ehemaliger Windsbacher [Name ist der Redaktion bekannt], der den Dirigentenwechsel anfangs eher kritisch sah, erklärte noch ganz ergriffen vom soeben Gehörten: „Wenn in Windsbach jetzt so Musik gemacht wird, dann sollte mein Sohn hier singen. Hoffentlich will er.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.