Seltsam entrückter Klang
KIEDRICH (13. August 2015). Welch eine Musik, welch eine Klangpracht! Es ist schon ein Treppenwitz der Musikgeschichte, dass Johann Sebastian Bach beim Schreiben seiner h-moll-Messe fast ausschließlich alte Werke gleichsam recycelt und zum großen Ganzen neu zusammengesetzt hat. Das Programmheft des Rheingau Musik Festivals fragt denn auch keck: „Kann ein Stückwerk ein Meisterwerk sein?“ Und schlussfolgert richtig: „Das Resultat ist nicht weniger als ein künstlerisches Vermächtnis, eine Zusammenfassung dessen, was [Bach] für bewahrenswert erachtete.“
Also locken diejenigen, die ebendieses Erbe pflegen, immer wieder Scharen begeisterter „Bach-Jünger“ an. Auch das Konzert in der Basilika von Kloster Eberbach ist so gut wie ausverkauft. Interessant auch, dass vergleichsweise viele Kollegen mit gezücktem Stift ihre Notizen im Programm festhalten. Das würde dem alten Bach sicherlich gefallen. Vielleicht ja genauso wie die souveräne Aufführung durch den Chor des Bayerischen Rundfunks mit Concerto Köln unter der Leitung von Peter Dijkstra.
Diese h-moll-Messe ist eine „runde Sache“, nicht ohne Ecken und Kanten, aber ohne Beulen und Dellen. Dijkstra legt eine in sich schlüssige Fassung vor, die vor allem durch kleine, aber feine Details besticht. So klingt der Chor über weite Strecken seltsam entrückt. Das Kyrie beginnt genau so: nicht wuchtig, nicht als aufschreiender Kreuzgang. Samtig-weich klingen die Register des Chors, homogen und transparent wird musiziert. Recht so, zumal einen hier sozusagen „an jeder Ecke“ eine schöne Fuge erwartet.
Dynamisch und agogisch verzichtet die Aufführung auf jegliche Überreizung. Entwicklungen werden von langer Hand vorbereitet, den Crescendi kann man beim Wachsen zuhören. Arm an Effekten ist das Konzert dadurch nicht, doch lässt Dijkstra die Musik sein, wie sie ist, ohne sie durch oberflächliche Pointen auszuschmücken.
Im gleichen Fahrwasser fährt bei den Solisten vor allem der muskulöse Bass von Andreas Wolf, dessen Linienführung klingt, als würde sie klare Gebirgsluft atmen. Die Arien derart schnörkellos zu hören ist purer Genuss. Während Christina Landshamer (Sopran) und Maximilian Schmitt (Tenor) ihre Partien elegant meistern, trägt einzig der Alt Anke Vondungs ein Quäntchen Affekt zu viel auf, was sich in den Duetten mit dem Sopran jedoch weitestgehend verliert.
Letztendlich ist Bachs h-moll-Messe eben doch ein Chorwerk: Schwungvoll gerät das „Gloria“, schwebend das „In terra pax“, erhaben und auf den Adressaten konzentriert das „Gratias agimus tibi“. Der bedrückende Moment im „Et incarnatus est“ und im „Crucifixus“ führt einem fast plastisch vor Augen, dass man sich vom Geschehen auf Golgatha lieber beschämt abwenden möchte.
Doch ist es nicht das Ende: Nach einer Generalpause ertönt siegessicher das „Et in Spiritum“ und geradezu mystisch das „Et expecto“ – ein „Credo“ mit musikalischer und inhaltlicher Aussage, für das Bach die Vorlage lieferte und das Dijkstra mit dem BR-Chor überzeugend ausdeutet. Ein wogendes „Sanctus“, ein tänzerisches „Osanna in exelsis“ und ein betörtes „Dona nobis pacem“ – der Kreis zur entrückten Stimmung des Anfangs wird passend geschlossen.
In Concerto Köln hat der Chor an diesem Abend ein äußerst harmonisches Pendant gefunden: Der historischen Aufführungspraxis verpflichtet musiziert man lebendig und doch würdevoll. Vor allem die solistischen Leistungen – stellvertretend sei Erwin Wieringa auf dem Naturhorn genannt – haben großen Anteil an der Plausibilität der Interpretation. Almut und Hannes Rux sowie Ute Rotkirch geben den prachtvollen Chören auf ihren Naturtrompeten zusätzlichen Glanz.