Freies Schweben im zeitlosen Raum
JOHANNISBERG (1. Juli 2015). Literaturspiel oder Improvisation – was ihr mehr liege, mag die Pianistin Gabriela Montero gar nicht entscheiden. Die Grenzen sind bei ihr ohnehin fließend: Neben dem freien Spiel standen Schubert und Schumann auf dem Programm in Schloss Johannisberg – auch hier bewegte sich die Künstlerin trotz Notation wunderbar frei.
Der Akkord des ersten der vier Impromptus op. 90 von Franz Schubert steht im Fürst-von-Metternich-Saal – Montero kostet es aus, hört ihm nach, sammelt sich, lässt sich inspirieren. Dann bewegt sie sich scheinbar tastend voran. Der Komponist hat die Noten vorgegeben, gewiss – doch hier entdeckt die Pianistin das Werk gemeinsam mit dem Publikum Takt für Takt: nicht zögerlich, sondern neugierig.
Im Allegro des Es-Dur-Satzes scheint einem eine Katze um die Beine zu streichen, so nobel ist Monteros Spiel. Aus dem Schmusekater wird im Verlauf ein stolzer Löwe – und der bald wieder zur Mieze. Das Andante des dritten Impromptus klingt wie ein weicher Kaschmirschal und das berühmte Thema des vierten perlt wie aus lichtem Nebel hervor.
Dann wird gefeiert: Robert Schumanns „Carnaval“ op. 9, 22 kleine Kabinettstückchen, in denen der Komponist so manches Kryptogramm aus den Noten A-Es-C-H versteckt hat. Ein sperriges Stück Musik, dem Montero zu Leibe rückt, indem sie die Individualität eines jeden Stückes abklopft. Das klingt mal verspielt wie die Musik zu einem Zeichentrickfilm, mal introvertiert, mal wie ein Ragtime. Durch das Attacca-Spiel wird das Werk großflächig, büßt aber auch ein wenig an Struktur ein – ohnehin ein Brocken, der erste Konzertteil dauert bei karibischen Temperaturen über eine Stunde.
Bevor das Publikum nach der Pause dann in den Genuss der Improvisationskunst Monteros kommt, gibt es noch einen Schumann, die C-Dur-Fantasie op. 17. Der Komponist gibt genaue Spielanweisung, die die Pianistin wiederum mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Eigensinn respektiert, denn im „mäßig, durchaus energisch“ vorzutragenden zweiten Satz schimmert wieder der Jazz durch, der schon im „Carnaval“ erklang.
Jetzt – endlich! – die Improvisation. Und leider nur zwei Stücke. Doch auch, wenn man dem Spiel die psychische wie physische Herausforderung des freien Spiels in keiner Sekunde anmerkt, weiß man doch darum. Und das, was man zu hören bekommt, ist einfach zu grandios, die Qualität ersetzt die Quantität. Zumal die Improvisation echt ist: Ist es im humorigen Improvisationstheater üblich, dass das Publikum eine bestimmte Szene, ein Genre, einen Musikstil vorschlagen darf – und in der Regel ist für die Mimen etwas leicht Umsetzbares, vielleicht ja auch Erwartetes und daher Vorbereitetes dabei –, bittet Montero das Publikum, ihr ein Thema vorzusingen! Und das muss man sich ja erst mal trauen.
Eine tut‘s und intoniert den Hochzeitsmarsch aus Mendelssohns „Sommernachtstraum“. Ein paar Mal spielt sich Montero die Melodie vor, nickt kurz und taucht dann wie ein Schwimmer mit kühnem Kopfsprung in die Musik ein. Immer wieder erklingt das Thema, mal ganz nah, mal von ferne. Die Pianistin spielt mit Rhythmus, Betonung, Tempo, synkopiert, zerbricht die Harmonie, um sie gleich wieder neu zusammenzufügen – faszinierend das Ganze!
In der zweiten Improvisation setzt Montero den Musical-Song „Don’t cry for me, Argentina“ aus Andrew Lloyd Webbers „Evita“ um: erst als barocke Toccata, dann im Stil der russischen Romantik und schließlich als Tango. Die Übergänge sind fließend, eine klangliche Transformation, die ohne Bruch plötzlich geschieht. Wie sagte Gabriela Montero im Interview: „Wenn ich improvisiere, verlasse ich diese Welt.“ Und nimmt das Publikum mit.