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Zutiefst berührt

KIEDRICH (30. Juni 2016). Man muss es sich immer wieder ins Gedächtnis rufen: Das, was wir heute als hehre Klassik anbeten, war seinerzeit nicht selten Gebrauchsmusik, pure Unterhaltung. Hätte es im 17. Jahrhundert schon Radio gegeben – Lieder von Purcell wären dort wahrscheinlich rauf und runter gelaufen. Und das heute sattsam bekannte Volkslied „The Three Ravens“, das Thomas Ravenscroft 1611 schrieb, wäre wochenlang Platz 1 der Hitparade gewesen.

In dieses Spannungsfeld treten heutige Interpreten: Einerseits wollen sie das Kunstlied pflegen, andererseits soll ihre Adaption auch den Geist jener Zeit atmen. Wer allerdings derart unverkrampft darangeht wie die Sopranistin Dorothee Mields und so elegant in die Musik vergangener Tage einzutauchen vermag, der zieht seine Zuhörer gleich mit.

In der Reihe „Starke Frauen“ präsentierte das Rheingau Musik Festival mit dieser Ausnahmekünstlerin nun eine weitere würdige Vertreterin jener Kunst-Amazonen, auch wenn das Thema des Abends „Love’s Madness“ beide Geschlechter gleich beschäftigen dürfte. An Mields Seite: die großartige Lautten-Compagney Berlin unter der beseelten Leitung von Wolfgang Katschner – ein ausgezeichneter Fachmann für die Alte Musik und Garant dafür, dass diese wie neu klingt.

Henry Purcell und Robert Johnson sind die Namen, die das Programm prägen, dazu gesellen sich neben Ravenscroft noch John Gay und Johann Christoph Pepusch, Matthew Locke und Volkslieder des englischen Barock – ein Who-is-who also. Und doch ganz anders als gewohnt, denn Mields‘ Sopran ist von so einer schwebenden Leichtigkeit, von so einem transparenten Leuchten, das doch einen Kern, eine Kraft hat: Sie ist die neue Emma Kirkby.

Ob sie eine Schauerballade von einer Kindsmörderin singt, mit den „Bedlam Boys“ im Pub versumpft oder in Purcells „O solitude“ die Einsamkeit bedenkt – stets bekommt ihr Ton etwas geradezu Plastisches, hebt sich vor dem inneren Auge der Vorhang für ein dreidimensionales Bühnenbild. Die Musiker der Lautten-Compagney tun ihr Übriges: neun Musiker, die den Erzählungen Mields‘ gleichsam als klingende Komparsen beispringen. Hier grollt der Donner, da legen sich gespenstische Dissonanzen über den Wohlklang. Auch in den reinen Instrumentalstücken kann man sich verlieren.

Wie Mields mit dynamischer Finesse die Akustik des Laiendormitoriums von Kloster Eberbach auslotet, wie sie Akzente setzt, hat etwas Unmittelbares. Letztlich ist dieser Gesang von so reiner Schönheit wie eine Seelenmassage, die tief im Inneren Verspannungen löst. Als Dorothee Mields zum Ende hin Purcells „Dido’s Lament“ anstimmt, scheint die Zeit still zu stehen. Das geht unheimlich tief. Hätte man währenddessen bemerkt, dass draußen jemand das eigene Auto knackt – es wäre einem egal gewesen.

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