Stairway to heaven
KIEDRICH (11. August 2019). Das Rheingau Musik Festival steht für vieles: seinen klangvollen Slogan „Ein Sommer voller Musik“ und in diesem Jahr für sein aktuelles Motto „Courage“. Natürlich auch für Tradition: Man pflegt die Musik verschiedener Epochen, den Kontakt zu befreundeten Künstlern, entdeckt neue Ensembles. Ein Brauch, der hier gleich mehrfach anknüpft, ist die regelmäßige Aufführung einer Marienvesper rund um Mariä Himmelfahrt am 15. August.
2000 begann der Bachchor Siegen mit der Marienvesper von Claudio Monteverdi. Gleich sechsmal erklang dieses Werk seitdem, abwechselnd mit Vespern von Chiara Margarita Cozzolani, Heinrich Ignaz Franz Biber, Jacob Obrecht, Antonio Vivaldi, Domenico Mazzocchi, Johann Rosenmüller oder 2014 mit einem Psalmenkompendium aus Rheingauer Quellen.
2016 hatte Robert King mit dem Choir of The King’s Consort und The King’s Consort die seither letzte von bis dato 15 Marienvespern dirigiert, woran nun das exzellente, von John Butt dirigierte Dunedin Consort aus Schottland anknüpfte. „Tatort“ war auch diesmal Kloster Eberbach (was ebenfalls zur Tradition gehört), das „corpus delicti“ erneut die Vespro della Beata Vergine von Monteverdi in der Fassung von 1610.
In der nahezu ausverkauften Basilika erlebte das Publikum dabei eine Aufführung, die vom ersten Moment an elektrisierte und den Abend über musikalische derart Funken schlug, dass man sich schier zusammenreißen musste, um keinen Szenenapplaus zu spenden. Die Musik verträgt eigentlich eine Aufführung ohne Pause – diese Interpretation brauchte sogar eine, denn die erzwungene Unterbrechung nutzte man gerne als Ventil, um die Fülle der Eindrücke mit anderen zu teilen und ja: endlich auch einmal zu klatschen.
Formuliertes Ziel des Dunedin Consorts ist es, „Alter Musik für die Gegenwart zu neuer Relevanz zu verhelfen“. Sein Mittel ist dank der Minimalbesetzung eine größtmögliche klangliche Transparenz und dabei eine kaum zu vermutende Klangfülle. Jede Stimme des zehnköpfigen Vokalensembles und der 14 Instrumentalisten ist hier solistisch wie chorisch von größter Güte. Die einzelnen Vokalisten trauen sich mit satter Forte- und Pianokultur auszusingen und gestalten ihre Partien so genussvoll, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt.
Alle Übergänge sind organisch und jedes Stück gerät zum Unikat, wobei wie im solistisch gesungenen „Nigra sum“ kleine Szenen entstehen: Tenor Nicholas Mulroy scheint ein lateinischer „native speaker“ zu sein, so eindringlich formuliert er diese angeblich tote Sprache. Im „Duo Seraphim“ (mit dem hinreißenden Joshua Ellicott) erlebt man dann tatsächlich zwei singende Engel, zu denen mit Hugo Hymas noch ein dritter tritt: Momente von überirdischer Schönheit.
Man wähnt sich wie bei der Betrachtung eines prachtvollen Bildes, an das man immer wieder näher herantritt, um einzelne Details, Formen und Farben in Augenschein zu nehmen. Diese Aufführung lädt zu einem solchen, ständigen Perspektivenwechsel ein: In der „Sonata sopra Sancta Maria“ sind es die beiden geradezu ausgelassen musizierenden Violinisten Bojan Čičić und Louis Creac’h, bei den Vokalisten nimmt einen auch der Sopran von Grace Davidson gefangen. Alles ist hier perfekt, ohne auch nur eine Sekunde lang steril zu wirken. Diese Marienvesper (nach der Pause war die Einspielung des Dunedin Consorts aus dem Jahr 2017 ausverkauft) ist mehr als ein Erlebnis: sie ist ein Geschenk.