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Passion und Präzision

ELTVILLE (23. August 2019). Welch eine großartige Akustik Kloster Eberbach hat und sich dadurch natürlich vor allem Vokalensembles als Konzertstätte empfiehlt, kann man bei der Fülle von Veranstaltungen, die das Rheingau Musik Festival hier alljährlich bietet, immer wieder neu erleben. Und so ist es schon allein deshalb ein Genuss, hier ein Konzert mit dem Tenebrae Choir unter der Leitung von Nigel Short zu hören.

Dieses englische Spitzenensemble schickt sich mit seinem stilistisch weit gefächerten Programm jedoch an, die Basilika für die Musik dreidimensional zu vermessen – ganz ohne Laser und Raumscanner, sondern allein durch die Kraft ihrer Stimmen, die wunderbare Harmonien und Dissonanzen erzeugen, sich brechen, die Wände entlangströmen und die Säulen hinabperlen zu scheinen. Das Programm ist zweigeteilt: erst Komponisten der Renaissance und des Barock, dann ein kühner Sprung ins 21. Jahrhundert – auch dies ein Durchschreiten, diesmal der Epochen.

Und damit fängt es tatsächlich an: Die Bühne ist noch leer, das Mikrophon für die Begrüßung noch nicht abgeräumt, da erklingen auch schon die ersten Töne von „Versa est in luctum“ von Alonso Lobo. Die Interpreten halten sich anfangs im hinteren Teil des einstigen Gotteshauses auf, doch die Klänge scheinen die Säkularisierung im Jahr 1803 mit einem Schlag rückgängig zu machen.

Beim Lauschen der Musik, die quasi aus dem Nichts ertönt, kommt einem unweigerlich das berühmte Zitat von Antoine de Saint-Exupérys Petit Prince in den Sinn: „Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.“ Der Chor nimmt an verschiedenen Plätzen Aufstellung: auf der Bühne, doppelchörig in den Seitenschiffen, er schreitet durch das Kirchenschiff und als die Sängerinnen und Sänger direkt neben einem Halt machen, ist das schon ein großartiger Moment, denn man erlebt ja hautnah, dass diese große Kunst hier und jetzt passiert.

Aufnahmen sind zweifelsohne faszinierende Tondokumente – doch solche Livemomente, wie sie einem das Rheingau Musik Festival jedes Jahr aufs Neue bietet, sind einfach beglückende und wertvolle Augenblicke. Und an solchen mangelt es an diesem Abend in der Basilika tatsächlich nicht, wobei es oft schon kleine Details sind, die aufhorchen lassen: beispielsweise wie Dirigent Nigel Short die letzte Silbe eines Amens ausklingen lässt. Oder wie die im Raum singenden Stimmen durch dynamisches Schattieren zusätzlich die Illusion von Nähe und Ferne erzeugen.

Die Register sind mit herausragenden Stimmen besetzt: Sämtlich von solistischer Güte fügen sie sich jedoch in einen vollkommen geschlossenen Chorklang ein. Besonders den Sopranstimmen ist eine, wenn man so will, kindliche Reinheit eigen, die vom sanft zupackenden Fundament der wohltönenden Männerstimmen getragen wird. Auch hier darf man das bewundern, was schon beim knapp zwei Wochen zuvor hier gastierenden Dunedin Consort zu bestaunen war: ein mutiges, aber elegant kultiviertes Aussingen.

Man hört das „Crucifixus à 8 voci“ von Antonio Lotti und das „Miserere mei“ von Gregorio Allegri. Gerade dieses oft gehörte Stück bekommt durch die Kunst, den Raum miteinzubinden, eine neue Dimension, die weit über den Einsatz des vierstimmigen Fernchors hinausreicht: Als sich der Sopran in die Höhe schwingt, da berührt es einen ganz seltsam, wie aus einer anderen Sphäre. Ähnlich berückend das Klangerlebnis im John Taveners „Hymn to the Mother of God“ mit seinen durch Echoverschiebung erzeugten Clustern, die sich auftürmen, wie eine Welle über einem zusammenbrechen und einen umspülen.

Auch Gustav Holsts bekannte Motetten – „Nunc dimittis“ und das „Ave Maria“ für Frauenchor – sind von vollkommener Klangschönheit. Zuvor taucht der Tenebrae Choir mit zwei Vertonungen des Cherubinischen Hymnus aus der Liturgie des heiligen Johannes Chrysostomos von Sergei Rachmaninov und Pawel Tschesnokov in die Klangwelt russischer Chormusik ein und beweist bemerkenswert akzentfrei polyglottes Talent. Notabene lassen sie den Text Ereignis werden: „Lasst uns, die wir geheimnisvoll die Cherubim verkörpern […] nun alle Sorgen des Lebens beiseiteschieben. Amen.“ Das Konzert schließt nach Eric Whitacres „I thank you God“ und William Harris‘ „Faire is the Heaven“ überraschend mit Olivier Messiaens „O Sacrum Convivum“ – das Publikum in der Basilika hält es nicht auf den Sitzen.

Tja, man mag es drehen und wenden, wie man will: Gemischte Chöre mit einer derart natürlichen Musikalität und hohen Stimmkultur, einem so beseelten Miteinander, die gibt es eben vor allem (um nicht zu schreiben fast nur) in Großbritannien. Nigel Short, von 1994 bis 2000 Countertenor der King’s Singers, gründete ein Jahr später seinen Tenebrae Choir, da in ihm der Wunsch laut wurde, mit einem größeren Ensemble zu musizieren: 19 Stimmen zählte die Besetzung, die jetzt in Kloster Eberbach auftrat und das Festival-Debüt des Chores bestritt. Endlich, möchte man sagen und hofft schon heute inständig, dass eine erneute Einladung so bald wie möglich ausgesprochen und angenommen wird.

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