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Nicht von dieser Welt

WIESBADEN (14. August 2021). In seinem zweiten von drei Rheingau-Gastspielen – das dritte ist im adventlichen Ausläufer des Musikfestivals geplant – präsentierte der von Nigel Short geleitete Tenebrae Choir gemeinsam mit der Geigerin Bomsori Kim in der Wiesbadener Lutherkirche eine besondere Kombination Bachscher Musik: die Chaconne aus der Partita d-Moll BWV 1004 für Violine solo in Verbindung mit Chorälen des Thomaskantors. Diese Paarung liegt spannenden, weil gewagten (und nicht unumstrittenen) Thesen der im Januar verstorbenen Musikwissenschaftlerin Prof. Dr. Helga Thoene zugrunde: Angeblich unhörbar Komponiertes soll hier hörbar gemacht werden.

Laut Thoene erweist sich die an sich textlose Instrumentalmusik der Partita als mehrschichtig hintergründige Sprache: „Aus der Notenschrift einer vermeintlich ‚weltlichen‘ Musik treten verschlüsselt Texte der lateinischen Liturgie hervor; sie werden begleitet von bedeutungsvollen Zahlen biblischer Provenienz. Neben kryptographisch verborgenen Namen findet man auch Bachs vielgestaltige Signaturen. Zu herausragenden Bedeutungsträgern aber werden in den wortlosen Sonaten und Partiten vor allem die versteckten Choral-Zitate, die wesentlich zur Sinnerschließung der Werke beitragen.“

Bevor der Tenebrae Choir und Bomsori Kim diesem Mysterium nachspüren, hört das Publikum Passionsmotetten von Alonso Lobo und Tomás Luis de Victoria, mit denen das Vokal-Consort beweist, dass es zu den besten der Welt zählt: Der Chorklang ist von einer transparenten Reinheit, der Melodienfluss von einer Homogenität, die ihresgleichen suchen kann. Zwischen den Chorsätzen steht – perfekt passend eingefügt – das Adagio aus Bachs g-Moll-Sonate (BWV 1001), in dem Helga Thoene die Choralmelodie „Herr Jesu Christ, Du höchstes Gut, Du Brunnquell aller Gnaden“ geortet hat. Das Spiel Kims gefällt mit kraftvollem Ton, der sich ohne Affekt – und dadurch doch effektvoll – in den Dienst Bachs stellt. Das tut auch der Chor, der vor der Gegenüberstellung von Partita und Chorälen die Motette „Komm, Jesu komm“ (BWV 229) intoniert – wiederum pures Staunen (und Freude, dieses Stück endlich einmal ohne Basso continuo zu hören).

Im Folgenden nun alternieren Chor und Solistin: Man hört die Choräle „Ach Herr, lass Dein lieb Engelein“ aus der Johannes-Passion, „Christ lag in Todesbanden“, „Den Tod niemand zwingen kunt“ und „Wenn ich einmal soll scheiden“ aus der Matthäuspassion, dazwischen verzaubert Kim mit den ersten vier Sätzen der Partita. Zum Schluss erklingt dann das Experiment Helga Thoenes: Bachs Chaconne, der letzte Satz der Partita, verschränkt mit einzelnen Choralzitaten. Und das raubt einem schier den Atem: Wie aus einer anderen Welt weht einen das Geigenspiel an, über dem der Tenebrae Choir mit seinen Choralzeilen schwebt.

Thoenes Thesen mögen die Ebene der Metaphysik tangieren: Fakt ist jedoch, dass der Hörer durch derartige Studien einen ungeahnten Einblick in einen musikalischen Kosmos erhaschen darf, der ihm tatsächlich den Zugang zu einer anderen Welt zu öffnen scheint. Und dabei ist es eigentlich völlig egal, ob Helga Thoene nun tatsächlich Bachs kompositorischen Hintergedanken auf der Spur war oder schlicht auf einen unglaublichen Zufall stieß (was man angesichts der Komplexität allerdings kaum für möglich halten mag): Die Musik dieses Genius‘ ist so unsagbar groß und steckt zweifelsohne voller Wunder. Und sie schenkt einem immer wieder – vor allem im schlichten Choral! – Augenblicke ungeahnter Seligkeit.

Zum Schluss muss leider angemerkt werden, dass das Publikum den meditativen Ansatz des letzten Blockes offenbar nicht erfasste und fast nach jeder Partie (zer)klatschte. Dazu führte sicher auch, dass Bomsori Kim sich immer wieder auf ihren Sitzplatz zurückzog und Nigel Short (mit einer Ausnahme) keine Überleitung schuf. Hier hätte man sich im Vorfeld absprechen und das Publikum bitten sollen, seinen Beifall erst zum Schluss zu bekunden.

2001 haben das Hilliard Ensemble und der Violinist Christoph Poppen Helga Thoenes Kombination aus BWV 1004 und Bach-Chorälen unter dem Titel „Morimur“ bei ECM eingespielt.

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