Der Knabenchor im Fokus
OESTRICH-WINKEL (7. Juni 2022). Am 25. Juni startet das Rheinau Musik Festival zum 35. Mal. Fast ebenso lang dabei ist der Windsbacher Knabenchor. Laut Intendant Michael Herrmann gehört dieser sogar „zum Rheingau wie der Riesling“ – so gesagt, als die Windsbacher 2007 den mit 10.000 Euro dotierten Rheingau Musik Preis erhielten. Immer wieder lädt das Festival Knabenchöre ein und rückt sie in diesem Jahr verstärkt in den Fokus: Mit dem Thomanerchor Leipzig, dem Dresdner Kreuzchor, dem Windsbacher Knabenchor, den Regensburger Domspatzen und dem Tölzer Knabenchor sind gleich fünf weltberühmte Ensembles zu Gast.
Decken die Thomaner und Kruzianer A-cappella-Chormusik aus fünf Jahrhunderten ab, gibt es von den Windsbachern mit den Stuttgarter Philharmonikern Mendelssohns Oratorium „Elias“ und die Domspatzen singen mit der Hofkapelle München die Große Credo-Messe von Mozart; die Tölzer gestalten Anfang Dezember dann ein Adventskonzert. „Hier kann das Publikum die verschiedenen Klangtraditionen deutscher Knabenchöre kennenlernen und vergleichen“, erklärt RMF-Programmplaner Timo Buckow. Doch geht es dem Festival gar nicht um musikalisches Kräftemessen: „Die Knabenchöre sind ein besonderes und erhaltenswertes Kulturgut. Dies wollen wir dokumentieren und unterstreichen.“ Der Konzertschwerpunkt ist initiiert vom Verein „Zukunft Klassik“, mit dem das Festival Künstlern und Ensembles, die durch die Pandemie besonders in Mitleidenschaft gezogen wurden, ein Podium und damit Perspektive bieten will.
Gerade bei Knabenchören ist es spannend, wie (und ob) sie durch die Corona-Krise gekommen sind. Wer als Hochleistungssportler nicht trainiert, baut schnell ab – nichts anderes droht vor allen diesen Ensembles, wenn sie nicht regelmäßig singen. Während der verschiedenen Lockdowns war ihnen gerade das ja untersagt, wobei durchaus mit zweierlei Maß gemessen wurde – und zwar mit föderalistischem: Während die sächsischen Thomaner weiter proben durften, wurde im bayerischen Windsbach das Sängerinternat zeitweise komplett geschlossen und der Chor, der zu den weltbesten zählt, von der Politik tatsächlich nur als Musikschule eingestuft. Die Folge: Probenverbot.
Solche Chöre singen aber normalerweise täglich, denn gerade die Knabenstimme braucht nicht nur ständiges Training, um zu wachsen und den hohen Leistungsanforderungen dieser Ensembles gewachsen zu sein. Sie braucht vor allem ein besonderes Augenmerk, denn irgendwann droht der Stimmbruch. Ohne Proben kamen viele Jungs unbegleitet in diese Phase des Übergangs von der Knaben- zur Männerstimme. Und die so wichtige Konzentrationsfähigkeit litt, denn auch dieser „Muskel“ konnte/durfte vielfach nicht trainiert werden. Zu diesen Problemen kommt die Sorge um den Nachwuchs, der während Corona ja ebenfalls nicht ausreichend angesprochen werden konnte: Anders als beispielsweise ein professioneller Rundfunkchor erneuert sich ein Knabenchor durch Stimmbruch und Abitur ja ständig.
Doch die deutsche Knabenchorszene steht nicht nur wegen Corona vor einem Neuanfang: Auch an der Spitze der sich im Rheingau präsentierenden Traditionschöre gab und gibt es aktuell Wechsel. So dirigiert die Regensburger mit Christian Heiß seit 2019 ein ehemaliger Domspatz, Michael Hofstetter ist seit 2021 künstlerischer Leiter des Tölzer Knabenchors, Andreas Reize hat seit September 2021 das Amt des Thomaskantor in Leipzig inne und in Windsbach und Dresden kommt es bald sogar zu einer Rochade: Im Spätsommer wird Martin Lehmann den Kreuzchor übernehmen; sein Nachfolger in Windsbach ist Ludwig Böhme, ein früherer Thomaner und Gründungsmitglied des Calmus Ensemble.
Lehmann bleibt dem Genre Knabenchor nicht ohne Grund treu: Als Kind sang er selbst bei den Kruzianern und schätzt an seinem Beruf vor allem, dass er junge Menschen mit großen Werken der Klassik in Erstkontakt bringen kann. Es sei eine beglückende Erfahrung, „wenn die Jungs anspruchsvolle Soli singen und gar nicht darüber nachdenken, wie schwer das ist, sondern sich einfach dieser Herausforderung offen und neugierig stellen. Und wenn die Kleineren sich danach ausrichten, was die Großen machen und ganz automatisch in diese Tradition hineinwachsen“, erzählt Lehmann: „Das ist Knabenchor: Die Jungs kommen über das Miteinandersingen und den Willen, gut sein zu wollen, zu großartigen Leistungen.“ Und natürlich fasziniert ihn wie auch seine Kollegen in Dresden, Leipzig, Regensburg und Bad Tölz vor allem eines: dieser besondere, strahlende Klang, wie ihn eben einfach nur ein Knabenchor hat.