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Chorklang in Vollendung

WIESBADEN (19. August 2022). Die englische Musikgeschichte verlief anders als auf dem Festland: Nach dem Barock und Henry Purcell schien die Quelle erstmal versiegt zu sein und während beispielsweise in deutschen Landen Klassik und Romantik blühten, ging es in England erst wieder im 19. Jahrhundert richtig los. Hier blieb man dann irgendwie in der Klangwelt der Romantik stehen und bewegte sich stilistisch eher im Krebsgang weiter: tonal und ohne allzu große klangliche Experimentierlust (was durchaus keine Kritik sein soll).

In Wiesbaden präsentierte der Tenebrae Choir auf den Tag genau nach seinem jüngsten Gastspiel beim Rheingau Musik Festival – damals mit Bachs Partita aus BWV 1004 und Choralmontagen – das Programm „England’s Finest“: Gustav Holst, Herbert Howells, Hubert Parry und Ralph Vaughan Williams sowie als zeitgenössischer Abstecher Judith Bingham. Wieder einmal präsentierte sich das Ensemble unter der Leitung von Nigel Short so, wie man es zuvor im Rheingau erleben durfte: als Spitzenchor, der in puncto Intonation, Diktion, Homogenität und Transparenz sowie Interpretation keinerlei Wünsche übriglässt.

Der Abend in der so gut wie ausverkauften Lutherkirche beginnt mit „The Evening Watch“ von Holst, einem weitestgehend akkordisch gesetzten Zwiegespräch zwischen Körper und Seele. Leider fehlt im Programmheft die deutsche Übersetzung einiger vertonter Texte, was beim folgenden „A Walk with Ivor Gurney“ noch viel mehr vermisst wird: Gerade bei moderner Musik – Judith Bingham ist Jahrgang 1952 – würde das dem Hörer so manche kompositorische Idee plausibler machen. Gleichviel: Gesungen ist auch dieses Werk makellos: Gesummte Cluster in den Frauen- und wogende Parallel-Intervalle sowie Vokalisen in den Männerstimmen.

Vor allem die Solopartien beeindrucken: Der Tenebrae Choir in normaler Kammerchorstärke setzt sich aus herausragend guten Einzelstimmen zusammen (deren Namen teilweise immer wieder auch in anderen britischen Ensembles der chorischen Champions-League auftauchen). Die sind jedoch in der Lage, sich diszipliniert zu einem famosen Chorklang zu verbinden. Und das muss man nicht nur können, das muss man als Solist ja auch wollen. Hier können und wollen alle: Heraus kommt ein Chorklang, der sich zudem durch brillante Beherrschung der Technik auszeichnet.

Da sind die Bässe selbst beim tiefen D und sogar C unglaublich präsent und halten ihre Akkorde, ohne einen Wimpernschlag lang an Substanz zu verlieren. Nigel Short kann sich auf jedes Register, jede Stimme verlassen: Er dirigiert sparsam, doch jede® weiß, wohin die Reise geht. In Howells Requiem heißt der letzte Satz „I Heard a Voice from Heaven“ – das Publikum hört gleich mehrere, als der Tenebrae Choir dieses ergreifende Werk singt. Auch hier beeindrucken wieder die Soli wie im Psalm 23 des zweiten Satzes. Und in den eingeschobenen lateinischen Requiem-Partien möchte man sich schlicht verlieren.

Lineare Modulationen münden hier nahtlos ineinander, ohne dabei beliebig zu zerfließen. Und dynamisch wird vom muskulösen Fortissimo bis zum nur noch gehauchten Gegenpol alles bedient, wiederum aus einem Guss und zu erleben unter anderem im Schlussakkord von „Lord, let me know my end“, dem letzten von Parrys „Songs of Farewell“. Solche Perfektion auf CD zu hören ist die Norm, weil der Tonträger ja (selbst von Profis gestaltet) ein Kunstprodukt bleibt – es live ebenso hören zu können, ist ein besonderes Erleben.

Im dritten von Parrys Liedern („Never weather-beaten sail“) heißt es: „Glory there the sun outshines / whose beams the blessed only see“ – zu Deutsch: Ehre überstrahlt dort die Sonne, deren Strahlen nur die Gesegneten sehen. Oder hören: wie in diesem Konzert in der Lutherkirche, die neben ihrer faszinierenden Jugendstilornamentik vor allem eine für Chormusik herausragende Akustik hat. Und wo man, nebenbei angemerkt, für den perfekten Hörgenuss nicht unbedingt weit vorne sitzen muss: Im zweiten Teil ist der Autor von seinem Platz in Reihe 4 Mitte auf einen der wenigen freien ganz hinten rechts gewechselt, wo man den Chorklang sogar noch besser erfassen kann.

Das Wiesbadener Konzert endet mit tosendem Applaus und Standing ovations, bevor sich die Sängerinnen und Sänger mit Edvard Griegs „Ave maris stella“ stimmungsvoll verabschieden. Am nächsten Tag feiern sie in Kloster Eberbach die „Queen of Heaven“ mit Werken unter anderem von Anton Bruckner, Igor Strawinski, Benjamin Britten und Giuseppe Verdi. Bereits im Dezember ist der Tenebrae Choir wieder Gast des Rheingau Musik Festivals: Am 7. wird im Kurhaus das 2021 wegen Corona ausgefallene Adventskonzert nachgeholt.

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