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Wenn bei Vivaldi das Handy klingelt

KIEDRICH (31. August 2022). In der Basilika von Kloster Eberbach stehen sie wieder mal auf dem Programm: „Le Quattro Stagioni“ von Antonio Vivaldi. Aber in besonderer Form: Das Norwegian Chamber Orchestra hat sich dieses Werks angenommen und es kräftig gegen den Strich gebürstet. Musiziert wird auf modernen Instrumenten – historische würden hier auch gar nicht passen. Ganz im Gegensatz zum ersten Stück des Abends, denn los geht es mit der Battalia à 10 von Heinrich Ignaz Biber.

Musiziert wird dieses barocke, klangliche Schlachtengemälde ambitioniert und originell. So entsteht im zweiten Satz („Die liederliche Gesellschaft von allerley Humor“) tatsächlich ein Tumult auf der Bühne und alles schreit durcheinander. Biber serviert dem Orchester hier herrliche Dissonanzen und es ist durchaus keine geringe Kunst, richtig falsch zu spielen. Hier wären alte Instrumente natürlich schöner, aber das Ton-Theater, das die Norweger da spielen, ist auch so höchst unterhaltsam. Zuweilen werden die Sätze verbunden und in der entspannten Aria lässt ein leises Paukenwummern die folgende Schlacht bereits ahnen. Am Schluss, im „Lamento der Verwundten Musquetirer“ wird dann so scharf diminuiert, dass die dargestellten Recken in eine lindernde Ohnmacht zu fallen scheinen. Köstlich.

Das zweite Stück des Abends, das D-Dur-Konzert für Trompete, Streicher und Basso continuo, wird mit gleicher Lebendigkeit und Perfektion musiziert. Gastsolistin des Abends ist Selina Ott, die schlicht meisterhaft spielt. Die schnellen Sätze im Grandioso und Allegro grazioso (mit bezaubernder Solokadenz!) und das getragene Andante im zweiten Satz lassen Künstlerin und Orchester mit pointierten Echoeffekten konversieren und bei den Schlussakkorden setzt Ott ihren glasklaren Ton so elegant oben auf, dass man unweigerlich an einen Klacks Sahne auf dem Kaffee denkt.

Nun aber Vivaldi: Dirigent Terje Tønnesen, der auch die Solovioline spielt, führt seine Musiker und das Publikum hier in einen klanglichen Irrgarten, dessen Faszination darin besteht, dass man immer weiß, in welchem Stück oder Satz man gerade ist. Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ sind bekannt, manchem vielleicht Ton für Ton, auch wenn man selbst kein Instrument spielt. Und das muss für ein solches Experiment auch sein, denn nur dann zünden ja die Ideen der Verfremdung.

Los geht es mit Straßengewirr, Autobrummen und Handyklingeln (made by Nokia) vom Band, aus dem sich langsam der live musizierte „Frühling“ herausschält. Um zu verdeutlichen, wie Terje Tønnesen hier vorgeht, stelle man sich Leonardo da Vincis Mona Lisa vor, die ja immer wieder für mal mehr, mal weniger originelle „Bearbeitungen“ herhalten muss. Doch auch, wenn man der Dame eine Clownsnase oder Zipfelmütze aufsetzt, ihr ein Bierglas in die Hand gibt, sie für die Ausstellung Duckomenta als Ente darstellt, mit Schnurrbart oder ganz aktuell mit Maske versieht: Die Mona Lisa bleibt immer als solche erkennbar.

Genauso funktioniert das mit den „Jahreszeiten“ des Norwegian Chamber Orchestra, mit denen man laut Tønnesen eine Brücke zwischen Barock- und Jetztzeit schlagen will. Stets erklingt Vivaldi, aber fast immer bearbeitet: mit gelängten oder gekürzten Noten, Tempiwechseln, Klangverschiebungen, Einspielungen vom Band, Überbetonungen (wie beim Vogelgezwitscher), Bühneneffekten mit Windmaschine und Theaterdonner. Die Streicher dürfen sich immer wieder im Col-legno-Spiel austoben, es wird gekratzt, mit den Füßen gestampft. Doch wer hier nun Chaos vermutet, irrt: Immer wieder wird das Orchester quasi eingefangen und kehrt zu Vivaldi zurück – bis sich der Hörer wieder „sicher“ wähnt, denn dann geht das Spektakel weiter.

Eine solche Klangcollage kann, zumal so grandios musiziert wie vom Norwegian Chamber Orchestra, ein riesiges Vergnügen sein und hier ist sie es auch. Vielleicht wird sich mancher demnächst „zum Ausgleich“ mal wieder eine puristische Einspielung anhören – mit historischen Instrumenten und ohne allzu große Überraschungen. Aber gerade solche fast schon rauschhaften Klangexperimente wie dieses stehen in einem ganz bewussten Dienst des Originals: Sie lassen sich von ihm elektrisierend inspirieren, schaffen mit und aus dem Alten etwas Neues. Und sie sorgen dafür, dass man mal genauer hinhört, wenn man ihm wieder begegnet.

Das Publikum in Kloster Eberbach ist zumindest aus dem Häuschen. Und dass das Rheingau Musik Festival sich nach den Coronajahren in seiner 35. Saison mit fast 105.000 Besuchern und einer Auslastung von rund 94 Prozent behaupten kann, liegt sicherlich auch daran, dass man den Mut hat, über den Tellerrand zu schauen. Und dort kann man dann solch spannende Programme wie Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ in der Fassung des Norwegian Chamber Orchestra entdecken, bereits 2005 für CD aufgenommen und auch im Internet zu sehen ist: https://youtube.com/watch?v=G4gk1PCZ3MI .

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