Von Johannisburg nach Johannisberg
GEISENHEIM (9. August 2023). Gebannt schaut man diesem Musiker zu, denn was der Cellist Abel Selaocoe mit seinem Instrument macht, ist schier unglaublich: welche Töne er dem Resonanzraum entlockt, wie zärtlich oder auch mal rabiat er über die Saiten streicht, sie kraftvoll zupft, das Holz mit großer Geste zusätzlich zum Schwingen bringt, es perkussiv beklopft oder liebevoll reibt. Dabei ist das Violoncello nun wirklich nicht das Instrument, das man mit der südafrikanischen Heimat des 31-Jährigen als erstes in Verbindung bringt. Das Rheingau Musik Festival präsentierte im Fürst-von-Metternich-Saal auf Schloss Johannisberg gemeinsam mit dem Verein Zukunft Klassik e. V. ein Konzert mit diesem Ausnahmekünstler, der am Klavier von Fred Thomas begleitet wurde.
Das Programm heißt wie die 2022 erschienene Debüt-CD Selaocoes: „Hae Ke Kae?“ Die Übersetzung des afrikanischen Idioms Sesotha lautet: „Wo ist Zuhause?“ Stilistisch kann man das bei diesem Künstler nicht eingrenzen, denn er musiziert die Klänge seiner Heimat genauso intensiv, wie er barocke Sonaten von Platti oder Suiten von Bach spielt. So ist auch sein Auftritt im Rheingau ein berauschendes Crossover, das mitreißt. Was in erster Linie nicht an den durchaus fremden Klängen liegt, sondern an der Offenheit, mit der sich Selaocoe durch seine Musik an das Auditorium wendet. Und das – wichtig für die Menschen auf der Bühne, wie er im Verlauf des Konzerts betont – erlebt diese Begegnung intensiv.
Der Abend beginnt mit dem Lied „Ibuyile iAfrica“ (zu Deutsch: Afrika ist zurück), das zu Zeiten der Apartheid über den Kampf gegen das Regime gesungen wurde: Der Hymnus wende sich an die Jugend, damit diese zur richtigen Zeit ihre Stimme fände, um eigene Traditionen zu pflegen, sagt Abel Selaocoe und tut genau dies. Mit dem Cello schlägt er dabei eine klingende Brücke zum europäischen Kontinent. Sein Ton ist unglaublich intensiv, das Pizzicato klingt energisch wie das eines Kontrabass‘, der Musiker singt durch sein Cello und mit einer wunderbaren, energiegeladenen Stimme, die auch ohne Mikrophon tragen würde. Selbst wenn man keines der afrikanischen Worte mit ihren Knacklauten versteht: Selaocoes Pianissimo, fast nurmehr gehaucht, das er zu den Klängen des Steinway-Flügels intoniert, geht unter die Haut, trifft einen frontal und rührt einen fast zu Tränen. Das dynamische Spektrum, das er Instrument und Stimme entlockt, ist ebenso atemberaubend wie die Intensität der Obertöne des Cellos und der knarrende Kehlkopfgesang.
Doch das Publikum muss nicht nur staunend im Saal sitzen: Wie einst Cab Calloway in seiner legendären Interpretation von „Minnie the Moocher“ fordert der Cellist zum Nachsingen einer Melodie auf, über die er dann mit Pianist Fred Thomas in südafrikanischen Klängen improvisiert. Zögerlich folgt das Auditorium und bekommt plötzlich Lust, selbst harmonisch zu experimentieren. Und Selaocoe? Strahlt, genießt. Dabei erwartete man ganz anderes, als er die Sarabande aus Bachs dritter Cello-Suite anstimmte. Im zuvor gespielten Präludium imitierte und begleitete der Musiker die Cellostimme mit dem eigenen Organ. Dabei öffnete er sich seinen Zuhörern vollkommen und ließ sich nicht nur in diesem Moment tief in die Seele blicken. Neben der grandiosen Spieltechnik dieses Künstlers machte gerade das den Abend zu etwas ganz Besonderem – weit über das Musikalische hinaus.
Die Interpretation der D-Dur-Cellosonate von Giovanni Benedetto Platti (um 1697-1763) klingt durch die behutsame Klavierbegleitung eher romantisch, doch kann gerade auch diese gefühlvolle Wiedergabe als Indiz gedeutet werden, dass sich dieser Musiker stilistisch eben nicht festnageln lassen will. Er liebt und lebt die Musik, die Traditionals und Werke Bachs, den er liebevoll Papa nennt: Zum Schluss erklingt das Choralvorspiel zu „Erbarm Dich mein, o Herre Gott“ (BWV 721), dessen Cantus firmus Selaocoe zart anstimmt, während Fred Thomas ebenso sanft die Achtel-Akkorde hintupft. Wo also ist Heimat? Auf Schloss Johannisberg wurde deutlich: Wo sein Cello und ein aufmerksames Publikum sind, da ist Abel Selaocoe in diesem Moment zuhause.