Ein barockes Mixtape
ELTVILLE (1. August 2023). Achten viele heute auf eine ausgewogene Work-Life-Balance und trennen Berufliches von Privatem oder verkürzen ihre Arbeits- zugunsten der Freizeit, erscheint einem das für die Familie Bach geradezu unmöglich: Was hätte ein Johann Sebastian Bach denn wohl gemacht, wenn nicht Musik? Und auch wenn ihm die Knaben des Chors vielleicht manchmal den letzten Nerv gekostet haben: Stunden ohne Musik dürften für den Thomaskantor verlorene gewesen sein.
Und so kann man sich auch das Zuhause der Bachs damals in der alte Thomasschule (direkt gegenüber des heutigen Bach-Museums) nur als ständig summenden und klingenden Raum vorstellen. Schließlich wird Vater Bach immer irgendwelche Klänge und Töne, Motive und Lieder im Kopf gehabt, gesungen oder am Cembalo gespielt haben. Wie sich das angehört haben mag, davon bekam man im Laiendormitorium von Kloster Eberbach nun eine Ahnung: „Bei Bach zu Hause“ hieß das Programm eines erlesenen Ensembles, das diesen Abend sozusagen en familie musizierte.
Blockflöte (Maurice Steger), Viola da Gamba (Hille Perl), Laute (David Bergmüller) und Cembalo (Sebastian Wienand) gehörten bei Bachs sicher zu den Instrumenten der Wahl. Aber die Mandoline, die Avi Avital spielt? Das Saiteninstrument steht aktuell im Fokus: Die deutschen Landesmusikräte küren regelmäßig ein „Instrument des Jahres“ und 2023 ist es die Mandoline – ein Instrument, das auf den ersten Blick erstmal ein bisschen exotisch wirkt. Man begegnet ihr musikhistorisch verstärkt ab Beginn des 17. Jahrhunderts. Bach hat für sie allerdings nichts komponiert. Aber es gibt Bearbeitungen. Und die klingen fast wie für sie geschrieben.
Zu hören waren pfiffig arrangierte Werke aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, die zweite Gattin des Thomaskantors, sowie aus dem Klavierbüchlein für den ältesten Sohn Wilhelm Friedemann. In seiner sympathischen Anmoderation nannte der 1978 geborene Avi Avital die Auswahl ein „Mixtape“, wie man es in seiner Jugend für Freunde erstellte: Stücke, die gefallen, die man anderen zeigen möchte, die einem selbst musikalisch oder inhaltlich etwas bedeuten. Stellt das Klavierbüchlein für Wilhelm Friedemann eher ein stilistisches Lehrbuch dar, war das Notenbüchlein für Anna Magdalena ein sehr persönliches Geschenk. So ließ einen dieses „barocke Mixtape“ erahnen, wie es damals wohl „bei Bachs zu Hause“ geklungen haben könnte.
Und das vor allem, wenn derart herausragende Künstler diese Musik spielen: Das G-Dur-Menuett, das C-Dur-Präludium oder die Arie aus den Goldbergvariationen sind natürlich bekannte „Ohrwürmer“, die einem seit dem eigenen Klavierunterricht geläufig sind. Hier aber erklingen sie quasi neu instrumentiert und man entdeckt spannende Klangfacetten. Rasant pulsiert die Corrente aus der a-Moll-Partita mit Mandoline, Gambe, Laute und Cembalo. Die Blockflöte hat vor allem bei den Arien ihren großen Auftritt: Steger scheint tatsächlich mit seinen Instrumenten zu singen und bildet dadurch die textimmanente Dramaturgie ab, die Bach eigentlich den Vokalisten zudachte – quasi Lieder ohne Worte. Anrührend klingt die Altblockflöte im Rezitativ „Ich habe genug“ und der Arie „Schlummert ein, ihr matten Augen“ aus BWV 82, bei „Schaff’s mit mir Gott“ BWV 514 wird sie intim nur von der Truhenorgel begleitet.
In anderen Stücken wechselt die Besetzung in einer Wiederholung und lässt das Stück plötzlich in einem gänzlich anderen Licht erklingen. Bach wird so sicherlich in der heimischen Schreibstube experimentiert haben und das Ensemble übernimmt seine Parodietechnik mit den Bearbeitungen höchst kreativ. Sogar die berühmte „Tobackspfeife“ BWV 515 wird buchstäblich entzündet, wobei das Strophenlied alternierend von Flöte und Mandoline „gesungen wird“. Einerseits bestechen Prägnanz und Virtuosität aller Musizierenden (besser: Musikanten!), andererseits die geradezu liebevolle Adaption.
Besonders kommt das im zweiten Teil mit Stücken aus dem Klavierbüchlein zum Tragen. Choralvorspiele zu „Jesu, meine Freude“ BVW 753 und „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ BWV 691 stehen neben Präludien und Interventionen, die in Teilen nur von Mandoline und Flöte musiziert werden: wunderbare Stücke, die Bachs Großartigkeit gerade in der Miniatur zur Geltung bringen. Man könnte stundenlang zuhören – und zusehen: Vor allem Maurice Steger gestaltet die Musik mit verschiedenen Instrumenten auch optisch, wobei die ausladende Gestik und auch seine Mimik nie der Selbstdarstellung dienen, sondern stets eine musikalische Phrase unterstreichen – inklusive des einbeinigen Spiels im es-Moll-Präludium BWV 853. Oder war das gar eine Hommage an den Kollegen Ian Anderson von Jethro Tull? Nur eine von vielen humorvollen Facetten, die diesen Abend zusätzlich einzigartig und somit unvergesslich machte.