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Ebenmaß in Perfektion

WIESBADEN (13. Juli 2023). Was für eine Klangpracht! Es sind nur sechs Stimmen, die da im atmosphärisch ausgeleuchteten Altarraum der Ringkirche stehen. Doch man glaubt, ein Vielfaches zu hören. Dabei singen sie nicht besonders laut, aber eben ausdrucksstark und dadurch kraftvoll. Das Rheingau Musik Festival hat Solisten des Collegium Vocale Gent eingeladen. Da das Foto im Programmheft mitunter andere Gesichter zeigt, scheint es sich um ein Ensemble mit alternierender Besetzung zu handeln. An diesem Abend hört man Kristen Witmer und Barbora Kabátková (Sopran), Robert Kuizenga (Alus), Benedict Hymas und Tore Tom Denys (Tenor) sowie Jimmy Holliday (Bass).

Das Konzert ist überschrieben mit „Vokalmusik aus dem Goldenen Zeitalter Spaniens“ und die Sängerinnen und Sänger feiern mit Werken von Francisco Guerrero, Tomás Luis de Victoria und Manuel Cardoso sowie Responsorien und Antiphonen sozusagen einen musikalischen Gottesdienst. Freischwebende Gregorianik durchwebt die streng geführten Motetten, so dass es zu einem ständigen Fließen kommt. Das Programm ist geschickt komponiert und Zeit wie Raum scheinen sich im Klang der Musik aufzulösen: Die kommt von vorne, doch man hat das Gefühl, als lege sich der Klang von überall her um einen. Die hohen Sopranstimmen, die das Tutti mit einem unglaublichen Funkeln überstrahlen, streicheln einem dabei die Seele, so dass man sich in dieser geistlichen Musik vollkommen aufgehoben fühlt.

Was dabei nachhaltig begeistert, ist die Perfektion, mit der die Künstlerinnen und Künstler hier auftreten. Wobei man keinen Moment den Eindruck hat, dass diese um ihrer selbst willen gepflegt wird: Alles steht angenehm unangestrengt im Dienst der Musik. So ergänzen sich die sechs Solisten des Collegium Vocale Gent mit ihren glasklaren Organen zu einem homogen-kristallinen Gesamt, dessen hohe Stimmkultur staunen macht. Vor allem die Motetten und die „Missa pro defunctis“ de Victorias stellen Ebenmaß in Perfektion dar. Sechs Stimmen erschaffen einen polyphonen Kosmos, in dem man gar nicht erst versuchen sollte, dem Leuchten einer einzelnen folgen zu wollen: Hier wird Musik Licht, wird Kraft und die unbedingte Transparenz der Stimmen lässt einen weiter schauen.

Nur: Was machte Philippe Herreweghe an diesem Abend eigentlich in Wiesbaden? Ein so hoch qualifiziertes Ensemble braucht beim besten Willen keinen Dirigenten und die Solisten schienen ihm auch wenig Aufmerksamkeit zu schenken. So stand der Anfang Mai 76 Jahre alt gewordene Musiker ziemlich verloren auf der Bühne und nahm einem mehr oder weniger nur die Sicht auf die Sängerinnen und Sänger. Wollte man mit dem großen und fraglos berühmten Namen locken? Bei Preisen zwischen 40 und 60 Euro wäre dies eine Erklärung. Dann aber wäre es besser gewesen, Herreweghe hätte sich die Reise gespart und das Ensemble dafür etwas mehr gesungen: Die zwei Konzertteile kamen nämlich kaum auf 60 Minuten Musik und selbst bei der Zugabe wurde gegeizt. Egal: Auch so war es einfach ein großartiges Konzert.

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