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Prediger in Tönen

Ein wütender Mob religiöser Fanatiker glaubt, im Besitz einer alleingültigen Wahrheit zu sein und feindet den Andersdenkenden an. Mit Gewalt zieht man diesen vor den Kadi, der sich der Menge opportunistisch beugt und ein Todesurteil spricht. Was eine Meldung jeder aktuellen Nachrichtensendung oder der Plot eines Thrillers sein könnte, ist leider nichts Neues. Auch Bachs Johannespassion nicht. In dieser Musik trotzdem immer wieder neue Facetten zu entdecken und dabei über den humanen Wahnsinn der skizzierten Handlung nachzudenken, ist eine Aufgabe, der sich jedes Konzertieren neu stellt.

Dank Bachs Genius darf sich das Werk auch außerhalb der Passionszeit eines Publikums sicher sein: Zum Rheingau Musik Festival führte der Windsbacher Knabenchor BWV 245 jetzt im nahezu ausverkauften Kloster Eberbach auf und lieferte nicht nur eine konzeptionell stimmige Interpretation, sondern vermochte durch musikalische Perfektion gepaart mit eindringlicher wie bewegender Gestaltung die Zuhörer in den Bann zu schlagen.

Gleich mit dem pulsierenden Beginn zeigte Ludwig Böhme, der die Windsbacher seit einem Jahr leitet, die Richtung auf: Es geht nach Golgatha, aber endet dort nicht. In einem Interview hatte der Dirigent zuvor gesagt: „Wir überstrahlen den Tod. Das ist Bachs Botschaft. Und die verkünden wir.“ Das mit Noblesse (und Kontrafagott!) musizierende Freiburger Barockorchester erwies sich als dabei passgenauer Partner, ja geradezu Spiegel der Windsbacher, die in puncto Diktion, Homogenität und Transparenz auch mit knapp 70 Stimmen so klangen, als wären es 16. Wie die Jungs da die aufgehetzte Masse gaben und den Hass der selbstgerechten Eiferer artikulierten, war fast schon Oper und ihr „Kreuzige“ ging einem wirklich unter die Haut. Ebenso die anrührenden Choräle als wunderliche Betrachtung der rauen Realität: Der emotionale und theologische Charakter der Johannespassion manifestierte sich in jedem Wort – Bach als ein Prediger in Tönen.

Auch die vokalen und instrumentalen Solisten waren durch die Bank weg grandios. Als Evangelist berichtete Patrick Grahl objektiv, jedoch mit zunehmender Anteilnahme und an manchen Stellen bestechend plastisch; seine Arien fielen dabei umso ergriffener aus. Bariton Thomas Laske gestaltete die Christusworte mit ansprechend sanfter Autorität und auch Dorothee Mields (Sopran), Terry Wey (Altus) und Tobias Berndt (Bariton) sangen ihre Partien mit leuchtender Brillanz und kraftvoller Wärme, die etwas in einem anschlug, das noch lange nachklang. Nicht nur die Arien „Zerfließe, mein Herz“ (Mields), „Es ist vollbracht“ (Wey) suchten ihresgleichen: Bachs Johannespassion kann man in ihrer Gesamtheit schlicht nicht besser musizieren.

Für die mittlerweile selbstverständliche historische Aufführungspraxis barocker Musik wählen Dirigenten gerne kleinere Besetzungen. Noch näher kommt man Bachs Musik allerdings, wenn sie ein Knabenchor singt: Seinerzeit gab es noch keine gemischten Chöre, weswegen die Aufführung in Kloster Eberbach die größtmögliche Authentizität bot. Daher ist jedes Konzert der Windsbacher – oder Leipziger, Dresdner, Regensburger, Mainzer und wo auch immer sie beheimatet sein mögen – auch ein deutliches Signal: für die Relevanz der musikalischen Gattung Knabenchor, die es ohne Wenn und Aber zu pflegen und zu erhalten gilt.

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