Bögen von überirdischer Klangschönheit
KIEDRICH (6. Juli 2024). Dass der Kammerchor Stuttgart unter seinem Dirigenten Frieder Bernius gemeinsam mit der Klassischen Philharmonie Stuttgart das Deutsche Requiem von Johannes Brahms auf den Tag genau zwölf Jahre, nachdem er es in der Basilika von Kloster Eberbach gesungen hatte, dort erneut aufführte, erwähnte Marsilius Graf von Ingelheim bei der Begrüßung seiner Gäste nicht – wohl aber eine viel wichtigere Information: Es war Bernius, der das allererste Konzert des 1987 neugegründeten Rheingau Musik Festivals dirigierte.
Der Abend beginnt jedoch diesseitig: Das „Schicksalslied“ op. 54 beschreibt zwar die Glückseligkeit der Götter – Friedrich Hölderlin, dessen Verse Brahms so kongenial vertonte, hält es aber doch eher mit den Irdischen und ihrem rauen Schicksal, das sie „wie Wasser von Klippe zu Klippe“ wirft. Zwei Welten, die Bernius da von Chor und Orchester grandios wie Bühnenbilder aufziehen lässt: Hier das Sanfte und Weiche, dort das Schroffe, Unbarmherzige. Doch Brahms endet nicht in der Verzweiflung, sondern kehrt musikalisch zum zarten Beginn zurück.
Was das Publikum in der ausverkauften Basilika geradewegs in die Welt des Deutschen Requiems führt, das zwar die Toten beweint, doch nicht in der Trauer erstickt, sondern Trost schenkt. Auch hier gelingt Bernius und seinen Musizierenden eine beispielhafte Aufführung, die die Zuhörenden reich beschenkt in den Abend entlässt. Auf der Heimfahrt erstrahlt die Landschaft im Licht der untergehenden Sonne derart intensiv, dass die Konturen eine fast schon plastische Klarheit haben. Genauso hat sich Opus 45 in der Basilika angehört.
Und das liegt vor allem am phantastischen Kammerchor Stuttgart: Äußerst homogen und mit kristallklarer Intonation in jeder dynamischen Abstufung gestalten die etwa 40 Sängerinnen und Sänger das Requiem, wobei die Musik entlang einer spürbaren Linie erklingt, die vom ersten Akkord im Orchester bis zum Schlusston reicht. Dabei ist nicht nur jedes Chorregister perfekt miteinander verzahnt, sondern auch mit den Orchesterstimmen. Spannend dabei: Bernius‘ Dirigat verzichtet auf große Gesten – der mittlerweile 77-Jährige überlässt das Gestalten den Ausführenden, tritt sympathisch zurück.
Auch die Solisten – die wunderbar strahlende Johanna Winkel (Sopran) und der vergleichsweise unauffällige Arttu Kataja (Bariton) – sind eher auf sich allein gestellt. Aber alle, die Solo- und Chorstimmen sowie das Orchester gehen selbstbewusst in die gleiche Richtung, so dass das Werk zur faszinierenden Einheit wird: Hier erklingt Musik nie für den Augenblick, nie als Strohfeuer, sondern glimmt die ganze Zeit in gleicher Intensität als funkelnde Glut, in die Chor und Orchester immer wieder kraftvoll hineinpusten.
In jedem Satz gibt es Wundersames zu entdecken – immer wieder aufs Neue: Mit sahnigen Einsätzen intoniert der Kammerchor das „Selig sind“ zu Beginn, schlägt im zweiten Satz derart pulsierend Wogen, dass man sich an seinem Sitz festkrallen möchte, um nicht gefühlt über Bord gespült zu werden (und nicht ohne Zufall wird hier ein Motiv aus dem „Schicksalslied“ aufgegriffen, was beide Werke gekonnt miteinander koppelt). Zerbrechliche Fragilität gefällt in „Wie lieblich sind Deine Wohnungen“ genauso wie das rauschhafte Hinterfragen des Todes im sechsten Satz, das fast schon etwas zuversichtlich Hohnvolles bekommt. Immer wieder zu bewundern: musikalische Bögen von überirdischer Klangschönheit, die ins Unendliche weisen.
Johanna Winkel beginnt ihr Sopransolo („Ihr habt nun Traurigkeit“) nicht piano, sondern mit zupackendem Forte, gibt der Aussage mehr Gewicht als der Atmosphäre; das kennt man so nicht, aber es gefällt durchaus. Die Sopranistin überzeugt durch wohldosiertes Timbre – grandios auch ihr Schlusston, den sie hauchzart diminuiert an die Klarinette weiterreicht. Aus der Fuge vor dem finalen Satz nimmt Bernius dann überraschenderweise das Tempo heraus, woran man sich erst gewöhnen muss, wodurch die einzelnen Stimmen jedoch wunderbar klar hervortreten. Man kann es noch so oft hören oder selbst singen: Brahms’ Opus 45 glaubt man eben nur, in- und auswendig zu kennen.