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Das Auge hört mit

KIEDRICH (11. Juli 2024). Nach diesem Konzert macht man sich die größten Vorwürfe: Wie konnte es passieren, dass einem das Rheingau-Debüt des tschechischen Collegium Vocale 1704 und Collegium 1704 unter der Leitung von Václav Luks vor zwei Jahren durch die Lappen gegangen ist? Damals stand der „Messiah“ von Georg Friedrich Händel auf dem Programm, jetzt die h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach. Mit diesem Konzert sangen und spielten sich die Künstler mit jedem Takt mehr in die Herzen des Publikums, so vielschichtig, kurzweilig, spannend, hinreißend und anrührend war die Interpretation. Man durfte Bachs h-Moll-Messe hier schon öfters hören – so intensiv war bislang wohl keine Aufführung.

Das Collegium Vocale 1704 zählt gerade mal 20 Sängerinnen und Sänger, etwas üppiger besetzt tritt das Collegium 1704 auf. Beide Ensembles verbinden sich unter dem geschmeidigen, ja katzenhaft eleganten Dirigat von Václav Luks in Kloster Eberbach jedoch zu einem wendigen, unglaublich transparenten und homogenen Klangkörper, der mit seiner Auffassung der h-Moll-Messe alle Gefühlswelten von tiefer Trauer über jubelndes Gotteslob bis hin zu fest verwurzelter Glaubensgewissheit durchschreitet.

Dabei werden mitunter rasante Tempi gewagt, doch dank der unfassbar großen Qualität aller Mitwirkenden sitzt jeder Ton: Selbst in der herausfordernden Akustik der Basilika klingen die Koloraturen wie gemeißelt, ist die Diktion perfekt. Man hört Meister ihres Fachs, die nicht historisch informiert, sondern historisch wissend musizieren. Václav Luks und seine Kollegen setzen in diesem Konzert Maßstäbe, an denen sich folgende werden messen lassen müssen.

Wie zu Bachs Zeiten üblich singen auch die Solisten im Chor: Tereza Zimková und Lucía Caihuela (Sopran), Aneta Petrasová (Mezzosopran), Benno Schachtner (Altus), Václav Čížek (Tenor) sowie Tomáš Šelc und Felix Schwandtke (Bass) – jede und jeder von erlesener Güte. Zwar beinhaltet BWV 232 Arien, doch ist es ein Chorwerk und die Sängerinnen und Sänger realisieren genau das auch in ihren Soli: Sie stellen sich hinter die Musik, gestalten und schenken damit nicht nur Freude, sondern haben sichtbar selber welche dran.

Es ist geradezu ansteckend, wie sich Zimková und Petrasová beim „Christe eleison“ auf ihre Einsätze freuen, um dann, wie auch die Kollegen, in ihren Partien mit dem Orchester zu verschmelzen. Schachtners blutvoller Altus findet seine Entsprechung im Schwandktes Bass, der wie ein Scheinwerferstrahl ins Kirchenschiff hineinleuchtet. Im Chor dasselbe: Alle Augen sind bei Václav Luks, gehen mit der Musik mit und strahlen dabei um die Wette. Hier wird nicht nur gesungen: Klänge werden erlebt, ja gelebt. Ein so ambitioniertes Singen ist (viel zu) selten, doch so unglaublich wichtig für die Intensität der Musik, denn es überträgt die Stimmung ohne Reibungsverluste aufs Auditorium: Das Auge hört eben mit.

Die Dauer des Konzerts wird zu einem einzigen (nur von der Pause unterbrochenen) Moment höchster Spannung: Da ist die Binnendynamik im ersten „Kyrie“ des Chores, im „Terra pax“ fühlt man sich geborgen wie in einer warmen Badewanne. Von unglaublicher Majestät ist das „Gratias agimus tibi“ und „Qui tollis“ klingt derart sphärisch entrückt, als wehe es aus einer anderen Welt hinüber. Im „Cruxifixus“ hört man die Akkorde dann wie Hammerschläge und spürt bei den Worten „et sepultus est“: Hier geht etwas zu Ende, nur um im folgenden „Et resurrexit“ kraftvoll ins Leben zurückgerissen zu werden. Wer schon einmal das Historische (!) Grüne Gewölbe im Dresdner Residenzschloss besucht hat, mag sich in solchen Augenblicken daran erinnert fühlen: Überall blitzt und funkelt es, man ist schier überwältigt von der Pracht der dort ausgestellten Juwelen und goldenen Pretiosen und ihrer geschmackvollen Präsentation.

Einzig beim „Sanctus“ eine kurze Irritation: Warum nimmt Václav Luks gerade diesen Chor so schnell? Andere Ensembles wählen eher ein würdevolles Durchschreiten des Satzes. Auf der anderen Seite jubeln hier doch Engel: überschwänglich, beseelt und voller Kraft! So gehört macht das Tempo Sinn, die Sechsstimmigkeit bleibt dank der exquisiten Ensembleleistung in jedem Augenblick durchhörbar.

Die h-Moll-Messe mündet mit dem tieftraurigen Altsolo des „Agnus Dei“ – an dieser Stelle seien auch alle herausragenden Instrumentensoli erwähnt – in den prachtvollen Schlusschor „Dona nobis pacem“, den Václav Luks in einem packend langgezogenen Schlussakkord ausklingen lässt. Ein erhebendes Gefühl: Der Himmel ist offen.

Die beste Nachricht zum Schluss: Der Hessische Rundfunk hat dieses Konzert aufgenommen und wird den Livemitschnitt im Rahmen des ARD Radiofestivals am 13. August senden. Hoffentlich findet er danach einen dauerhaften Platz in der Audiothek des Senders.

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