Farinelli lebt!
KIEDRICH (24./25. August 2024). Am Wochenende, bevor in Hessen und Rheinland-Pfalz nach den Sommerferien die Schule wieder beginnt, lud das Rheingau Musik Festival sein Publikum in Kloster Eberbach sozusagen zu einem kurzen Italien-Trip ein: Am ersten Abend besuchte man mit dem RIAS Kammerchor und der Akademie für Alte Musik Berlin (Akamus) Francesco Durante, Arcangelo Corelli und den im Süden weilenden Georg Friedrich Händel, am zweiten mit dem Countertenor Philippe Jaroussky und dem Ensemble Artaserse Komponisten, die für den berühmten Kastraten Farinelli Arien schrieben. Was auch immer man im Urlaub davor erlebt hatte: Schöner konnten Ferien wohl kaum ausklingen.
Blickt man in die Zeit des Barock zurück, weiß man von Höfen, die ein eigenes Orchester unterhielten: Kultur und vor allem Musik war etwas, mit dem man glänzen konnte und wollte – auch gegenüber Nachbarn oder Verwandten. Derlei Luxus gönnt sich heute kein Adliger mehr. Schade eigentlich. Doch der Staat tut es noch, zumindest als Anteilseigner: Die Bundesrepublik finanziert gemeinsam mit dem Land Brandenburg und dem immer mal wieder (und nicht nur von ganz weit rechts) in der Kritik stehenden öffentlich-rechtlichen Rundfunk (hier Deutschlandfunk und RBB) den RIAS Kammerchor Berlin. Und das ist auch gut so: Der Klangkörper feiert in dieser Saison sein 75-jähriges Bestehen und es ist zu wünschen, dass daran auch künftig nicht gerüttelt wird!
In Kloster Eberbach musiziert der Chor mit Akamus unter anderem Werke von Händel: „Nisi Dominus“ HWV 238 und „Dixit Dominus“ HWV 232 sowie das B-Dur-Konzert HWV 288. Beide Ensembles treten gerne zusammen auf und auch im Rheingau erwies sich diese Partnerschaft einmal mehr als sichere Bank: Unter der Leitung von Justin Doyle, seit sieben Jahren Dirigent des RIAS Kammerchors, überzeugen Sänger und Instrumentalisten durch beeindruckende Homogenität, die sie delikat zu einem Klangkörper verschweißt.
Eröffnet wird das Konzert mit Durantes B-Dur-Magnificat, bei dem sich auch drei der vier Solisten – Olivia Vermeulen (Alt), Florian Sievers (Tenor) und Krešimir Stražanac (Bass) – mit kurzen Partien empfehlen. Im „Dixit Dominus“, das Doyle geschmackvoll und äußerst kurzweilig als Oratorium en miniature inszeniert, gesellt sich Sopranistin Evelina Liubonko dazu, die das Quartett charmant ergänzt: Alle singen kultiviert linear mit perfekt dosiertem Vibrato – ein Genuss. Auch der Chor (bei dem auffällt, dass alle Stimmen mittlerweile mit Tablet singen und die gute alte Notenmappe offenbar eingemottet haben) lässt trotz (oder vielleicht ja auch gerade wegen?) heterogener Besetzung keinerlei Wünsche offen und gefällt mit transparentem Raumklang, der im Satz „De torrente in via bibet“ auch dadurch geformt wird, dass der Sopran im Stehen und die anderen Register sitzend singen. Man lernt nie aus.
Auch in den Orchesterstücken – zu Händel gesellt sich Corelli mit dem Concerto grosso op. 6 Nr. 4 – gefällt Akamus durch geschliffene Dialoge und gefühlvolles Spiel: Hier wird nicht nur historisch informiert musiziert, sondern musikantisch agiert. Stellvertretend für alle Musikerinnen und Musiker sei bei Händels Violinkonzert der Solist Yves Ytier gefeiert: So pustet man mit dicken Backen den Staub von der Alten Musik und präsentiert sie auf Hochglanz poliert. Dass ein vorbeiziehendes Gewitter die dunklen Kirchenfester der Basilika erhellt, verleiht der Musik zusätzlich Gänsehautmomente.
Kleiner besetzt tritt am Folgeabend das Ensemble Artaserse auf und eröffnet das Konzert fulminant mit Johann Adolph Hasses D-Dur-Sinfonia op. 5 Nr. 1. Hier gelingt es den Künstlerinnen und Künstlern sogar noch mehr, elektrisierend Funken zu schlagen: Das akzentuierte Spiel, bei dem der Basso continuo immer wieder sportlich-perkussiv seine Muskeln spielen lässt, macht die Musik zum Erlebnis, was sich in der g-Moll-Sinfonia op. 5 Nr. 6 und in Durantes e-Moll-Konzert für zwei Violinen aufs Köstlichste wiederholt. Neben dem Hörgenuss braucht man nur in die Gesichter von Raul Orellana und Jose Manuel Navarro (Violine), Marco Massera (Viola), Ruth Verona (Violoncello), Pablo Zapico (Laute), Yoko Makamura (Cembalo) und Roberto Fernandez de Larrinoa (Kontrabass) zu blicken, in denen sich neben Konzentration und Empathie vor allem die Freude am gemeinsamen Musizieren spiegelt.
Gleiche Akkuratesse legt das Ensemble auch im Zusammenspiel mit dem Countertenor Philippe Jaroussky an den Tag. Er singt Arien für den großen Farinelli (1705-1782), von dem man sagte, dass man seine Kunst selbst dann für unmöglich gehalten habe, wenn man sie persönlich erlebt hätte. Der Franzose vermittelt dem Publikum einen nachhaltigen Eindruck davon, wie das damals wohl geklungen hat: Mit Esprit und Leichtigkeit intoniert er die Arien von Pietro Giuseppe Sandoni, Egidio Duni, Geminiano Giacomelli oder Farinellis Lehrer Nicola Antonio Porpora.
Wie Jaroussky seine Koloraturen Leuchtraketen gleich ins Kirchenschiff schießt oder sich elegant von Intervall zu Intervall schwingt, ist schlicht brillant. Der Künstler braucht nur kleine Gesten, seine Mimik ist noch begrenzter: Oft mit geschlossenen Augen taucht er und mit ihm das Publikum bis auf den Grund jeder Arie, scheint entrückt und ist doch ganz da, geht in der Musik auf. Die große Kunst, hier klingt sie, als wäre es gar keine so zu singen, als wäre dieser außergewöhnliche Wohlklang der Stimme eine Selbstverständlichkeit: Jaroussky kostet, ganz unaufgeregt, jede Nuance voll aus, verziert auserlesen, gestaltet mit feiner Dynamik und feiert nicht weniger als Farinellis Auferstehung.
Die Basilika wird zum Opernhaus und der Star am Schluss gefeiert. Als Zugabe erklingt aus Porporas 1735 geschriebener Oper „Polifemo“ die Arie „Alto Giove“ und nach dem ersten Applaus wird es nochmal ganz still. Allein die Kondition, die der Künstler da dokumentiert, ist beachtlich, sein Ton auch hier anrührend, zumal Porpora dieses Stück ohne Rücksicht auf den Sänger vollkommen instrumental komponiert hat: Er wusste offenbar, was er seinem Farinelli zumuten kann. Jaroussky ist auch hier unfassbar grandios, seine Koloraturen rauben zum Glück nur dem Auditorium den Atem – ein Abend, der noch lange, lange nachklingen wird.