Weniger ist mehr
EIBINGEN (25. Juni 2024). Kraja, so nannten Linnea Nilsson, Frida Johansson sowie Lisa und Eva Lestander ihr Vokalquartett, das sie vor 23 Jahren in Nordschweden gründeten. Kraja ist nicht nur ein Ort außerhalb von Arjeplog, sondern heißt aus dem Sämischen übersetzt auch „der Ort, nach dem man sich sehnt“. Und die Abtei St. Hildegard war genau das, denn wer in dieser von Krisen und Kriegen bewegten Zeit nach Momenten der Ruhe suchte, wurde von den vier Damen reich beschenkt. Wie das Rheingau Musik Festival, das Kraja schon öfters eingeladen hatte und nun endlich den ersehnten Besuch aus Skandinavien bekam.
Die schwedische Folk-Musik hat ihren ganz eigenen Charme: lyrisch, ausgewogen, klar, reich an Obertönen und arm an Vibrato. Kraja ist in dieser Musik zuhause und singt traditionelle Weisen und Volkslieder mit einer Authentizität, die einen bereits mit dem ersten Ton vollkommen gefangen nimmt: Vier Stimmen, die nicht laut singen müssen, um sich Gehör zu verschaffen. Überhaupt spielt sich das Konzert eher im unteren dynamischen Bereich ab.
Dass die Arrangements und Eigenkompositionen für vierstimmiges Frauenensemble eher Einfachheit ausstrahlen, ist dabei überhaupt kein Makel – im Gegenteil: Das Wiederholen der melodischen Figuren erinnert eher an ein eingängiges Mantra und hat einen ganz eigenen, spröden und doch einnehmenden Reiz, von Redundanz oder gar Monotonie keine Spur. Man fühlt sich eher an gregorianische Gesänge erinnert, was ja trotz des weltlichen Programms ganz wunderbar mit der Aura der Spielstätte verschmilzt.
Wenn Kraja ein Pianissimo singt, dann klingt das wie ein Nebelhauch, wie die in Töne gefassten, verblassenden Strahlen der untergehenden Sonne. Die Lieder handeln von Liebe, Frohsinn und Traurigkeit, Abschied und Wiedersehen, Landschaft, Blumen, Erinnerungen. Es sind einfache Geschichten, die Kraja hier erzählt, vorgetragen mit dem vokal-klaren Dialekt und der Direktheit der Norrländer. Die Stimmen des Quartetts haben dabei etwas Kindlich-Naives und man selbst fühlt sich als Hörer auf den Schoß der Mutter versetzt, die einem ein Lied vorsingt. Mit tänzerischer Leichtigkeit erzeugen Nilsson, Johansson und die Lestander-Schwestern sphärische Klänge, geschmeidige Akkorde, glitzernde Modulationen und Linien, die wie Lichtstrahlen ins Kirchenschiff reichen.
Die Aura der Benediktinerinnen-Abtei St. Hildegard wird maßgeblich bestimmt durch das monumentale Christusbild in der Apsis über dem Altar: Im Schimmer des auf Goldgrund gefertigten Gemäldes breitet der Heiland die Arme aus, über seinem Kopf steht das lateinische Wort Pax – Friede. Und genau den schenkt einem die Musik von Kraja: Hier klingen sogar bewusst gesetzte Dissonanzen rein und klar. „Ihre Singstimmen“, sagt ihr Landsmann Johan Norberg, „sind vollkommen natürliche Verlängerungen ihrer Sprechstimmen, ganz ohne Affektiertheit.“ Und er beschreibt den Gesang mit der Frische eines Sommermorgens. Recht hat er.