Terra incognita im Sturm erobert
KIEDRICH (26. Juli 2024). Als der Windsbacher Knabenchor vor mehr als 20 Jahren das Deutsche Requiem von Johannes Brahms aufnahm – damals mit Juliane Banse, Stephan Genz und dem DSO Berlin –, fragte man sich durchaus, was in Chorleiter Karl-Friedrich Beringer gefahren sei, ein solches Werk, das doch nach dem satten Klang eines gemischten Chores verlangt, ausgerechnet mit einem Knabenchor aufzunehmen? Das Anhören der 2002 bei Rondeau erschienenen CD ließ diesen Standpunkt jedoch nicht nur bröckeln: Er wurde geradezu pulverisiert, so wunderbar und ergreifend klang und klingt diese Interpretation!
Daran erinnerte man sich, als man das Programm des Rheingau Musik Festivals aufblätterte, wo die Windsbacher mit Giacomo Puccinis Messa di Gloria angekündigt wurden. Brahms geht. Aber ein italienischer Opernkomponist? Dessen 100. Todestag nahm der Knabenchor jedoch ganz bewusst zum Anlass, stilistisch eine Terra incognita zu betreten. Nach dem persönlichen Fehlurteil von damals (und um nicht wieder mit höchster Schlagzahl zurückrudern zu müssen) überwog ganz klar die Neugier. Wie überzeugend die Windsbacher das neue Terrain erobert haben, war jetzt in Kloster Eberbach mit dem letzten Konzert der Chorsaison zu hören.
Puccinis Messa di Gloria erklingt vor dem Requiem op. 48 von Gabriel Fauré, der ebenfalls vor hundert Jahren starb. Und noch etwas jährt sich 2024: Vor ebenfalls zehn Dekaden fanden in Paris die Olympischen Sommerspiele statt, die just an diesem Abend mit einem großen Spektakel auf der Seine eröffnet werden. Gleiches ist auch in Kloster Eberbach zu erleben, allerdings für die Ohren. Der Windsbacher Knabenchor, der 2007 den Rheingau Musik Preis erhielt und hier schon immer ein gern gehörter Gast ist, tritt mit verhältnismäßig großer Besetzung auf: Über 90 Sänger intonierten die Messa, wobei sie von der Staatsphilharmonie Nürnberg begleitet werden.
Dirigent Ludwig Böhme weiß genau, was er mit seinen Jungs tun muss, um Musik jedweder Epoche und Stilistik zum Leuchten zu bringen. Sprache ist hier immens wichtig und man merkt bei jedem Ton und Akkord, dass die Jungs ganz genau wissen, was sie singen. Die Intonation ist perfekt, die Durchhörbarkeit auch, was bei der Größe der Besetzung umso mehr beeindruckt. Die Instrumentalisten, die das Programm mit den Windsbachern am Abend zuvor schon einmal in Ansbach aufgeführt haben, lassen sich hörbar von der juvenilen Frische und Strahlkraft des vokalen Klangkörpers anstecken, das Zusammenspiel funktioniert nahezu punktgenau. Hier wird übrigens, wie es sich für ein italienisches Opernorchester gehört, authentisch mit einem Cimbasso musiziert – jener Bass-Ventilposaune, die die Tuba ersetzt und sich besser mit den Posaunen mischt.
Da sind die glockenhellen Knabenstimmen, die von den volltönenden Tenören und Bässen rund geerdet werden. Puccinis Messa ist eine „Oper im Kirchengewand“ und im „Gloria“ erklingen neben feinen Engelsstimmen gleichsam die vereinten Chöre singender Pizzabäcker, so knackig rustikal intonieren die Männer ihren Marsch. Herrlich, denn so wird Kunst greifbar, bekommt fühlbar Fleisch auf die Knochen. Tenor Florian Sievers springt behände auf dieses einher galoppierende Pferd und schmettert seine Partien blutvoll ins Kirchenschiff. Etwas dezenter tritt Bariton Tobias Berndt auf, wohingegen Sopranistin Elisabeth Breuer, der der Dirigent eine kurze Gastrolle bei Puccini gibt, nicht ganz gegen den Orchesterklang ankommt. Egal, ihre große Stunde schlägt ohnehin bei Fauré.
Die Windsbacher legen sich genussvoll in jede Klangkurve, die Puccini da errichtet hat. Mühelos und elegant wechseln sie Duktus, Chor, Orchester und Solisten verschmelzen zu einer klingenden, transparenten Einheit: Gestochen scharfe Fugen wie im „Cum Sancto Spiritu“, erhebende Momente (beim „Et resurrexit“ ist das durchaus wörtlich zu nehmen), ätherische Augenblicke – Ludwig Böhme lässt die Dramatik der Musik greifbar werden, nichts bleibt im Ungefähren. Und es wird klar: Offenbar existiert keine Musik, die die der Windsbacher Knabenchor nicht zu seiner machen kann.
Nach dem Puccini gibt es eine Pause, was bei geistlicher Musik manchmal ein wenig stört. Hier ist sie jedoch dringend geboten, um dem folgenden Fauré Luft zum Atmen zu verschaffen. Das Requiem bietet ein warm leuchtendes Kontrastprogramm: Statt großer chorsinfonischer Geste erlebt man nun einen durchweg meditativen Klang mit nur wenigen dynamischen Eruptionen. Anspruchsvoll, auch für den Hörer.
Doch genau diesen Ton zu treffen ist natürlich eine der Windsbacher Königsdisziplinen: Hier sind die Sänger in ihrem Element und zeigen anschaulich, dass es die viel größere Kunst ist, leise zu singen und das Herz doch ein Forte hören zu lassen. Die Knaben und Solisten – allen voran Elisabeth Breuer – überzeugen mit entrücktem, verinnerlichtem Gestus und unterstreichen den Reiz des Schlichten. Das Programmheft zitiert am Schluss den französischen Musikwissenschaftler Jean Chantavoine, nach dem Faurés Requiem für eine „paradiesische Vorstellung ohne eine Spur der Qual oder des Zweifels, gar kaum der Trauer“ stehe. Und von da zum Brahms-Requiem ist es ja nicht allzu weit.
Am Ende des Konzerts werden die diesjährigen Absolventen von Gymnasium und Realschule verabschiedet: 19 Jungs verlassen den Knabenchor, haben an diesem Abend ihr wirklich allerletztes Konzert als Windsbacher gesungen. Das ist stets eine hochemotionale Angelegenheit: Von der Knabenstimme, denen sie in den vergangenen Jahren Tutor und Ansprechpartner waren, erhalten sie eine Sonnenblume, man umarmt sich, es fließen Tränen. Chorleiter Ludwig Böhme dankt ihnen und ihren Familien – ergreifende Momente.
Als Zugabe erklingt auf Wunsch der Abgänger das „Ave verum“ des englischen Komponisten Philip Stopford (*1977). Auch er sang einst im Knabenchor, an Westminster Abbey in London – wie Ludwig Böhme bei den Thomanern, Tobias Berndt im Kreuzchor und Florian Sievers bei den Chorknaben Uetersen: gute Schulen für die Musik – und für das Leben.
Im Interview berichtet der Künstlerische Leiter des Windsbacher Knabenchors über die Hintergründe dieses Chorprojekts: https://windsbacher-knabenchor.de/blog/oper-im-kirchengewand/. Dieser Beitrag ist auch im Online-Journal des Rheingau Musik Festivals erschienen.