When the Earth Stands Still
EIBINGEN (8. Juli 2025). Es ist unvorstellbar, doch versuchen wir es trotzdem: Im Rheingau des 18. oder 19. Jahrhunderts treffen sich sechs talentierte junge Damen, die gerne singen, und möchten als Vokalensemble Konzerte geben. Was heute eine erwünschte Selbstverständlichkeit ist, war damals undenkbar: Frauen durften durchaus musizieren, allerdings nur im stillen Kämmerlein und keinesfalls professionell. Öffentliche Auftritte waren lange den Männern vorbehalten. In der Bibel verbietet der Apostel Paulus Frauen in Gemeindeversammlungen gar den Mund und Mitte des 17. Jahrhunderts untersagte Papst Clemens IX. ihnen schlicht jeden öffentlichen Gesang. Womit schon mal die Unfehlbarkeit, die diesen Amtsträgern nachgesagt wird, widerlegt ist.
Zum Glück entschieden sich Aryssa Leigh Burrs, Anna Crumley, Cecille Elliott, Maryruth Miller, Ingrid Johnson und Elizabeth Tait erst im 21. Jahrhundert zu einem ersten öffentlichen Auftritt als Vokalensemble Lyyra, das aus der Voces8 Foundation hervorgegangen ist. Das Sextett, das 2024 sein Debütkonzert gab, ist in den USA beheimatet, wo man derzeit ja fast befürchten muss, dass der amtierende Präsident mit dem orangen Teint auch Schritte gegen musizierende Frauen einleiten könnte – immerhin war die erste offizielle Aufnahme des Ensembles eine digitale Single von Vienna Tengs „Hymn of Acxiom“, die pünktlich zum Weltfrauentag 2025 viral ging. Gleichviel: Lyyra gab jetzt sein zweites Konzert in Deutschland und war Gast des Rheingau Musik Festivals, das solche faszinierenden vokalen Klangkörper gerne in der Abtei St. Hildegard präsentiert.
Man könnte es kurz machen und sagen: Besser geht’s nicht. Allein schon, dass man mit eines der ersten Auditorien ist, die dieses faszinierende Ausnahmeensemble konzertant erleben darf, ist ein Geschenk, das einen beglückt in den Abend entlässt. Zuvor brandete den sechs Damen rasender Applaus entgegen, die mit geistlicher Musik verschiedener Epochen sowie einem Streifzug durch den „American Sound“ der Gegenwart scheinbar mühelos die Gipfel der A-cappella-Kunst erklommen. Mit Lyyra erlebt man keine Show aus übertriebener Gestik und Mimik, sondern L’art pour l’art. Die Sängerinnen stellen sich vollkommen in den Dienst der Musik, gehen im Einklang auf und platzieren ihr Publikum dabei in einem aparten Spannungsfeld: Die Zeit scheint still zu stehen und vergeht doch wie im Flug.
Das Konzert beginnt mit einem Cantus der Hausherrin: „Caritas Abundat“ der Hildegard von Bingen in einem Arrangement von Nancy Grundahl. Schon dieses kurze Stück entrückt einen der Gegenwart, so harmonisch rein, unfassbar transparent und dabei jedoch keinen Moment lang steril schweben die sechs Stimmen durchs Kirchenschiff. Das nächste Lied des 1966 geborenen Don Mac Donald ist Programm: „When the Earth Stands Still“ – man fühlt sich, um mit Samuel Barbers „Heaven Haven“ zu sprechen, für den Moment angekommen und aufgehoben. Ähnliches empfinden wohl auch die Sängerinnen, die von ihren solistischen Einlagen immer wieder in einen ausgewogenes Tutti zurückfallen.
Der Ensemblename Lyyra bezieht sich auf den Nachthimmel, auf die universale Harmonie der Musik und leitet sich von dem Sternbild ab, das Orpheus‘ berühmte Leier darstellt. Hier erlebt man Ensembleklang in höchster Perfektion: Keine Stimme drängt sich in den Vordergrund, jede weiß um ihre Verantwortung für das gemeinsame Klangbild. Und doch möchte man eine Stimme gerne heraushören: Cecille Elliot, die auch als Komponistin wirkt, ist ohnehin eine imposante Erscheinung und hat nicht nur eine einnehmende Ausstrahlung, sondern vor allem eine volltönende Altstimme, die an den warm-satten Klang einer Bassblockflöte erinnert und dem Gesang von Lyyra eine grandiose Grundierung gibt.
Das Ensemble überzeugt in allen Epochen und Stilen: mit Maurice Duruflés „Tota pulchra es“ aus seinen „Quatre motets“ oder William Byrds „Sing Joyfully unto God Our Strength“ genauso wie mit Amy Beachs „Dusk in June“ oder der anfangs erwähnten „Hymn of Acxiom“. Bei Paul Simons „Bridge over Troubled Water“, mit dem das Konzert endet, besticht vor allem der zarte, man möchte fast sagen unschuldige Ton, der etwas rührend Intimes hat und dann im Crescendo aufblüht. Den größten Moment wohliger Gänsehaut schenkt Lyyra aber mit dem Traditional „Tryin‘ to Get Home“, einem Spiritual, das in seiner Schlichtheit zutiefst ergreift und aufwühlt.
Einmal mehr passten hier Raum und Musik bestens zusammen: Die mit Beuroner Kunst Apsis mit ihrem monumentalen Christusbild zeigt auch eine Reihe Engelsfiguren, die einem während des Konzerts fast wie Schatten der Sängerinnen vorkommen wollten. Über allem steht das Wort PAX, Friede. Und genau den schenkte einem Lyyra mit seinem wundervollen, sphärischen Gesang. Wie gesagt: Besser geht’s nicht.
Wer dieses Konzert verpasst hat, kann es rheinabwärts in der gut 80 Kilometer entfernten Andernacher Christuskirche nochmals erleben, wo die Damen am 19. Juli bei RheinVokal zu Gast sind: https://www.rheinvokal.de/ . Zu hören ist Lyyra auch im Internet auf ihrer Seite https://www.lyyramusic.com/ – nicht zu verwechseln mit www.lyrramusic.com, wo Lyubomira Pavlova aus Bulgarien Popmusik singt.