Singender Geschichtenerzähler
IDSTEIN (2. Juli 2025). Eine interessante Information über das Konzert des Rheingau Musik Festivals, das der Countertenor Andreas Scholl gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Pianistin Tamar Halperin, jetzt in der ausverkauften Idsteiner Unionskirche gab, ließ aufhorchen: Dem Sänger gehe es an diesem Abend nicht primär um die Stimme, vielmehr wolle er mit ihr die Geschichten, die die Lieder, meist englischsprachige Traditionals, erzählten, ausleuchten. Und man greift sich gerne an die eigene Nase respektive das Ohr: Oft bewundert man das Organ einer Sängerin oder eines Sängers, schwärmt von den Koloraturen, verliert sich im Belcanto – aber weiß man auch immer, was sie oder er da gerade singt? Und ist das nicht genauso wichtig?
Ja, sagt Andreas Scholl, lässt jedoch seiner Frau den Vortritt: Tamar Halperin spielt auf Flügel und Keyboard im erhöhten Altarraum ihr Stück „Baustelle Nr. 2 nach Johann Sebastian Bachs c-Moll-Präludium (BWV 999)“. Doch der Thomaskantor ist lange nicht zu hören, zu sehr scheint ihn der Baustaub zu verhüllen, den die Pianistin da mit ihrer Abstraktion aufwirbelt: Meißeln gleich rückt sie der Musik mit schnell repetierenden Grund- und Mitteltönen zu Leibe, legt irisierende Modulationen frei, entkernt die Musik gleichsam in pul(veri)sierenden Intervallen, bis am Ende der Schluss des Originals einem Grundstein gleich erklingt. Bach inspiriert eben – selbst zu einem mit den Harmonien spielenden Dekonstruktivismus.
Szenenwechsel: Scholl hat den Folksong „Wayfaring Stranger“ des amerikanischen schwarzen Komponisten Samuel Coleridge-Taylor so arrangiert, das der gospelhafte Ton deutlich zu hören ist. Er singt das Lied jedoch nicht „auf der Bühne“, sondern schlendert langsam durch den Mittelgang, scheint sich des Publikums gar nicht bewusst zu sein, nur für sich zu summen und intoniert doch in so wunderbar ausgesungenen Bögen. Die Stimme ist in diesem Moment nicht das Kunstwerk, sondern „nur“ Medium – und klingt doch unglaublich intensiv.
Diese Empfindung zieht sich wie ein rotes Band durch den ganzen Abend. Und das wird auch nicht zerschnitten, als Halperin – eine ausgezeichnete, weil bedächtig einfühlsame Liedpianistin, denke man nur an die rollenden Wellenbewegungen in „Henry Martin“ – solistisch glänzt: Man hört zwei „Children’s Songs“ von Chick Corea und beschreibt Nr. 20 am besten mit einem Blick in einen wuselnden Ameisenhaufen, deren Straßen die Pianistin in traumwandlerischer Sicherheit auf die Tastatur zaubert. Auch Claude Debussys kleine Klaviersuite „The Snow is Dancing“ ist so ein klingendes „Lied ohne Worte“, mit dem sich Halperin dem „Storytelling“ ihres Mannes, so der Titel des Konzerts, gekonnt anschließt.
Der singt schlicht ergreifend – also schlicht und doch, gerade dadurch packend: „In Germany before the War“ von Randy Newman (*1943) ist eine Moritat auf die verstorbene Geliebte und das von Halperin arrangierte Lied „All the Fine Young Men“ des ein Jahr jüngeren Eric Bogle, das den Krieg verflucht, ist von so eindringlicher Aktualität, dass man den Tönen betroffen nachsinnt.
Das Programm trifft verschiedene Stimmungen und beim finalen Song „Lord Randall“, in dem der Titelgeber seiner Mutter von den unschönen Folgen eines von seiner Geliebten zubereiteten Fischbrötchens berichtet, für das er die Umschwärmte am liebsten am Galgen sehen möchte, darf man wieder schmunzeln. Nicht nur hier hängt man an Scholls Lippen (und Halperins Fingern), denn der Countertenor, der im Traditional „The Wife of Usher’s Well“ auch mal ins Baritonregister wechselt oder Passagen spricht, erweckt die gesungenen Texte zum Leben, gibt ihnen zusätzlich Kontur und Mehrdimensionalität – eine akustische Entsprechung des Bilderreichtums der Unionskirche.
Man hört Geschichten von Geistern, gefallenen Rittern und gestorbenen Königinnen – jedem Song gibt der Sänger ein neues Gesicht, vor allem, wenn es sich um bekannte Lieder handelt: „Barbara Allen“ zum Beispiel, eine der beliebtesten und vielgesammelten englischen Folkballaden, die Scholl bereits vor 25 Jahren mit dem Orpheus Chamber Orchestra aufgenommen hat, erklingt zu einer eigenen Melodie und man denkt wohl nicht zufällig an „Belfast Child“ der Simple Minds? Einen ebenso intimen Moment erlebt das Publikum mit der Zugabe: Früher habe er gerne Billy Joels „Lullaby“ gesungen, doch das habe dieser ja für seine ältere Tochter komponiert – also gibt es ein Schlaflied zu hören, das Scholl für seine Tochter geschrieben hat. Und damit findet ein traumhaft schöner Abend ein betörend ruhig ausklingendes Ende.