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Unwirklich schön

OBERWESEL (13. August 2022). Allein schon die Liebfrauenkirche in Oberwesel ist einen Besuch wert: Sie scheint in die Höhe zu streben, so schlank und hoch steht sie da. Das hohe Langhaus ist durch einen filigranen Lettner vom Stiftschor abgetrennt und bietet hervorragende Akustik für den A-cappella-Gesang – vor allem von diesem Format.

The Gesualdo Six hat sich erst 2014 gegründet und binnen kürzester Zeit zu einem der besten Ensembles seiner Art entwickelt. Sein Klang ist derart intensiv und transparent, homogen und rein, dass man ihn eigentlich am besten mit klarem Wasser beschreiben möchte – oder mit dem warmen Abendlicht, das nach dem gerade mal einstündigen Konzert die steilen Hänge des Mittelrheintals überflutet.

Auf dem Programm stehen drei europäische Komponisten des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts: der Engländer Thomas Tallis mit den „Lamentations of Jeremiah“, der Spanier Tomás Luis de Victoria mit drei sowie der Namensgeber des Sextetts, der Italiener Carlo Gesualdo mit sechs Tenebrae-Responsorien. Der gesungene Text ist Latein, doch erweist sich die Interpretation dieser Künstler als derart inspiriert, dass man fast keine Übersetzung braucht.

Wenn es bei Gesualdo heißt „Vos fugam“ (Ihr werden fliehen), dann singen The Gesualdo Six derart flatterhaft, dass man den Tumult im Garten Gethsemane förmlich vor Augen hat. Und dann das folgende, gelassene und schicksalergebene „Et ego vadam“ (Ich werde gehen)! Natürlich sind diese Effekte bereits in der Musik angelegt; doch so, wie sie hier gesungen werden, hat das schon Klasse. Bei diesem Ensemble ist eine musikalisch gestaltete Klage eben kein Notenabbild, sondern scheint in ihrem Moment echt nachempfunden.

Dass es gerade bei Gesulado die atemberaubenden Modulationen sind, die besonders, aber eben nicht affektiert ausgekostet werden, erklärt, warum sich die sechs Briten gerade diesen Komponisten als Namenspatron gewählt haben. Gesualdos Musik ist hier besonders eindringlich und berührend: Die formidablen Vokalisten singen sich buchstäblich in die Herzen ihres Publikums. Das geschieht, je nach Werk, in Besetzungen zu vier bis sechs Stimmen.

Nicht nur als Leiter soll Owain Park kurz hervorgehoben werden: Der Leiter der Gesualdo Six komponiert selbst, singt einen packend tief-schwarzen Bass (notabene auch in Ensembles wie Tenebrae, dem Gabrieli Consort, The Sixteen und Polyphony), wechselt jedoch auch mühelos ins Counterregister. Alle Stimmen haben einen faszinierenden Brillanzkern und singen unglaublich linear. Es ist fast schon ein instrumentales Musizieren, einem perfekt austarierten Streichquartett oder Gambenconsort nicht unähnlich: vom Piano zart berührt und im Forte mit Wucht umrauscht.

Als Zugabe erklingt Tallis‘ „O nata lux“, dessen Schlussakkord mit einem hauchzarten Vibrato des Altus im Raum steht: Man müsste nur diesen einen Moment konservieren können. So bleibt immerhin die wärmende Erinnerung an ein wirklich besonderes Konzert von RheinVokal.

SWR2 wird einen Mitschnitt dieses Konzerts zu einem späteren Konzert senden.

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