Verwirrender Glanz
BERLIN (2. September 2012). Die Zeiten sind unsicher: Kriege, Umweltzerstörung, Klimakatastrophen, Hungersnot und wirtschaftlicher Ruin sind die Menetekel an den Wänden weltweit. Und so passt die Aufführung von Arnold Schönbergs Oratorium „Moses und Aron“ in unsere Tage wie dafür geschrieben.
In der Berliner Philharmonie gastierte die EuropaChorAkademie unter der Leitung von Sylvain Cambreling mit dieser Musik jetzt als Auftakt einer Tournee, die sie mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg auch nach Luzern, Straßburg und Madrid führen wird – passenderweise, denn in ganz Europa ergeht und verliert sich das Volk ebenfalls im von Schönberg so trefflich auskomponierten Tanz um das goldene Kalb.
Es ist die Schlüsselszene und hier greift die Zwölftontechnik, mit der ihr Schöpfer sein Werk gesetzt hat, mit ihrer ganzen atonalen Wucht: „Du goldener Gott“, proklamiert das Volk Israel: „Gold gleicht Lust! Gold ist Herrschaft!“ Moses ist noch fern, empfängt die zehn Gebote, weiß noch nicht, dass Gott hier in Materie gefasst wurde; dabei ist er für Moses doch ein „einziger, ewiger, allgegenwärtiger, unsichtbarer und unvorstellbarer Gott“.
Franz Grundheber leiht dem Propheten hinreißend seine Sprechstimme, während Andreas Conrad (Tenor) die Vokalisen des Aron ebenso gefällig aussingt; gleichsam überzeugend: Johanna Winkel (Sopran, Elvira Bill (Alt), Jean-Noel Briend und Jason Bridges (Tenor) sowie Andreas Wolf (Bariton) und Friedemann Röhlig (Bass).
Schönberg widmet sich in „Moses und Aron“ jenem Widerspruch des göttlichen Bilderverbots und der Sehnsucht des Menschen nach etwas Sichtbarem. Während für Moses, des Wortes ohnmächtig, nur der Gedanke zählt, stillt sein Bruder Aron als sein Sprachrohr das Verlangen nach Bildhaftigkeit und überzeugt das Volk durch Wunder, Zauberei, Feuer- und Wolkensäule. Moses beschwört am Ende desillusioniert: „O Wort, Du Wort, das mit fehlt!“
Es ist zweifelsohne schwere Kost, dieses zweisätzige Opernfragment, das hier zur konzertanten Aufführung gelangte. Für Dirigent Sylvain Cambreling ging damit ein über Jahrzehnte gehegter Wunsch in Erfüllung: An allen Opernhäusern, an denen der derzeitige GMD der Oper Stuttgart wirkte, wollte er das Werk inszenieren und schreckte stets davor zurück. Nun wagte er es doch – und brillierte auf ganzer Linie.
Der von Joshard Daus, dem Künstlerischen Leiter der EuropaChorAkademie, herausragend gut einstudierte Vokalkörper beeindruckt durch passgenaue Diktion und steigert sich begeistert wie begeisternd in die Handlung hinein. Nicht minder entbrannt ist das opulent besetzte Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg und besticht vor allem in der pulsierenden Orgien-Szene.
Cambreling beweist dabei Fingerspitzengefühl und gestaltet die dramatische Handlung als unsichtbare Oper: Dieser „Moses und Aron“ hat durchaus seine theatralischen Momente. Im Vorfeld wünschte sich Cambreling, dass das Publikum diese Klänge nicht nur verstehe, sondern mit ihm erlebe. Ob jeder an diesem Abend seinen privaten Zugang zur Zwölftonmusik gefunden hat, ist so fragwürdig wie unwichtig, denn ein Erlebnis von hoher atmosphärischer Dichte war dieses Konzert allemal.
Deutschlandradio Kultur sendet einen Konzertmitschnitt am 8. September ab 19.05 Uhr, SWR2 am 2. Dezember ab 20.05 Uhr.