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Auf den Flügeln des Gesangs

MAINZ (3. September 2022). 1841: Der Tourismus-Pionier Thomas Cook organisiert in England für 570 Menschen die erste gemeinsame Reise, in den USA erhält der Maler John Rand ein Patent für die von ihm entwickelte Tube, auf Helgoland dichtet August Heinrich Hoffmann von Fallersleben das „Deutschlandlied“, in Meißen wird die erste Freiwillige Feuerwehr gegründet und in Königsberg stellen die Gebrüder Gebauhr jenen Hammerflügel fertig, der normalerweise im Wohnzimmer des Pianisten und Musikprofessors Christian Rohrbach und nun im Roten Saal der Hochschule für Musik steht.

Beide, Rohrbach und der Hammerflügel, sind gemeinsam mit dem Bariton Hans Christoph Begemann, ebenfalls Professor an der HfM Mainz, die Protagonisten des Eröffnungskonzerts des dortige Meisterkurses Singing Summer. Der widmet sich in diesem Jahr dem Liedschaffen des am 4. November vor 175 Jahren verstorbenen Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy. An die mehrtägige Arbeit Begemanns und Rohrbachs mit 13 Sängerinnen und Sänger sowie vier Pianistinnen und Pianisten schließt sich am 8. September das Konzert an, in dem dann die Kursergebnisse präsentiert werden.

Um ein möglichst authentisches Klangbild zu schaffen, werden die Kursteilnehmer ausschließlich mit historischen Hammerflügeln arbeiten. Auch die HfM besitzt einen solchen aus dem Jahr 1837. Als Rohrbach sein Instrument vor einigen Jahren erwarb, war es der spezielle Klang, der den Pianisten begeisterte: Gegenüber einem modernen Konzertflügel, von dem sich ein Hammerflügel schon allein baulich unterscheidet, ist sein Anschlag weicher, sein Ton milder, obertöniger und weniger voluminös. Stattdessen klingt das Instrument sanglicher – und ist somit natürlich für das Kunstlied prädestiniert.

Hier wird der Musiker, der sich vom Liedbegleiter zum -pianisten emanzipierte, wieder genau das: ein Begleiter. Doch Obacht: Begleiter im Sinne eines verlässlichen Freundes. Er ist in diesem Fall nicht einfach nur da, um den Gesang zu untermalen, sondern begegnet dem Sänger sozusagen auf Ohrenhöhe. Ein Hammerflügel führt dazu, dass beide Medien – Organ und Instrument – quasi verschmelzen und eine viel überzeugendere Einheit ergeben als eine Stimme, die es mit einem modernen Flügel aufnehmen muss. Wenn die Teilnehmenden des Singing Summers und ihr Publikum dies in gleicher Weise wahrnehmen dürfen wie die Zuhörer des Dozentenkonzerts, werden alle (und hier vor allem die Pianisten) um eine wichtige Erfahrung reicher sein.

Im Zentrum des Meisterkurses steht Felix Mendelssohn, der als Liedkomponist eine weitaus exponiertere und hörbarere Stellung verdient als bisher, wo er irgendwo zwischen den Kollegen Franz Schubert und Robert Schumann einsortiert wird. Das Motto des Singing Summer lautet daher auch „Man soll hören süßes Singen“, wie es in Opus 8 heißt. Das tut man an diesem Abend – und zwar nicht nur im Lied „Auf den Flügeln des Gesanges“ (op. 34, 2). Denn mit Hans Christoph Begemann und Christian Rohrbach haben sich ganz offensichtlich zwei gefunden, die eine musikalische Sprache sprechen. Beide fühlen sich intensiv in jedes Lied ein – egal ob sinnierend in „Allnächtlich im Traume“ (op. 86, 2), auf Schusters Rappen im „Wanderlied“ (op. 57, 6) oder energiegeladen im „Jagdlied“ aus Opus 84. Wie die Opera 71 und 19a kommt diese Sammlung komplett zu Gehör – durchaus eine Seltenheit.

Begemann hat sichtlich Spaß an seiner Kunst: Der sonore Bassbariton ist in Tiefe, Mittellage und Höhe gleichermaßen präsent, die Stimme ansprechend geschmeidig und sicher geführt. Sein Markenzeichen ist neben einer filigranen Diktion die Natürlichkeit, mit der er singt: Ohne Pathos, aber mit Leidenschaft und somit höchst geschmackvoll nimmt sich Begemann jedes Themas, das Mendelssohn hier vertont hat an. Dabei singt der Bassbariton mit Kopf und Herz: Die Empathie, die er dem Lied und (damit) seinen Zuhörern entgegenbringt, ist echt, verfügt er doch über die für einen Sänger so unglaublich wichtige Fähigkeit zu kommunizieren. Charismatisch blickt Begemann ins Auditorium und scheint stets jemanden individuell anzusingen – nicht nur im pointiert gestalteten „Hüt Du Dich“ (MKW K 81), wo er mit ansonsten eher sparsam eingesetzter Mimik auch mal den drohenden Zeigefinger ins Publikum reckt.

Diesem Künstler zuzuhören ist also ein ästhetisches wie sinnliches Vergnügen. Und genau dazu gesellt sich jetzt Christian Rohrbach am Hammerflügel. Sein Anschlag ist weich, was nicht nur dem ohnehin wärmeren Klang des Instruments geschuldet ist. Das Spiel dieses Pianisten schenkt jedem Lied noch eine weitere Dimension, Tiefe und Substanz. Hier muss die Stimme nicht kämpfen und drängt sich nolens volens nach vorn, sondern darf sich entspannt auf die satten Akkorde setzen, sich von den perlenden Läufen tragen lassen.

Gemeinsam spüren beide Künstler dem Besonderen in jedem Lied nach – und finden es auch gemeinsam. Bei einem derart großen Einfühlungsvermögen in das Tun des jeweils anderen hätte das wahrscheinlich auch an einem normalen Flügel funktioniert. Aber gerade dieses Konzert zeigt, dass man in einer Zeit, in der immer alles höher, weiter, schneller und lauter zu werden hat, viel öfters den Klängen eines Hammerflügels lauschen sollte – und einem Sänger, der weiß, welche Kraft vor allem im Diminuendo liegen kann.

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