In der Ruhe läge die Kraft
KOBLENZ (23. Juli 2010). Gleich zwei großartige, weil eigentlich ganz kleine, zurückhaltende Chorwerke präsentierte jetzt das SWR Vokalensemble Stuttgart im Rahmen seines diesjährigen RheinVokal-Gastspiels unter der Leitung von Marcus Creed in der Basilika St. Kastor zu Koblenz: Knut Nystedts „Immortal Bach“ und das „Agnus Dei“ von Samuel Barber. Desweiteren stand der Abend mit Werken von Sven-David Sandström, Heitor Villa-Lobos und Clytus Gottwald ganz im Zeichen der Verarbeitung, Beeinflussung und Abwandlung.
Doch zurück auf Anfang: Den machte eben Nystedts „Immortal Bach“. Dem Schweden ist hiermit 1988 ein Geniestreich gelungen: Vier im Raum verteilte vierstimmige Chöre intonieren die ersten Zeilen des Bach-Chorals „Komm süßer Tod“, wobei einen die Stimmen des SWR Vokalensembles in einem herrlichen, homogenen und transparenten Surround-Effekt umwehen: Makellos in der Intonation schwebt der einfache Satz im Raum. Dann jedoch lässt Nystedt den Abschnitt wiederholen, wobei die harmonische Struktur durch unterschiedliche Längen auseinanderfällt – die Folge: ein Klang-Cluster, durch den Bachs Melodie stets hindurchscheint, der jedoch in traumhaften Melismen mit Obertönen wie aus einer anderen Welt zu einem Klang von unglaublicher Dichte verwoben wird.
Doch dann: Applaus – der Live-Übertragung in SWR2 geschuldet, wurde anfangs sogar darum gebeten. Dieser Kniefall vor dem Äther zerstört jedoch die intime, tief empfundene Stimmung leider jäh! Da fällt es kaum auf, dass das folgende Stück – die „Bachianas Brasileiras Nr. 9“ von Heitor Villa-Lobos – obgleich ebenfalls ganz fabelhaft gesungen! – ebenfalls nicht so recht zum zuvor Gehörten passen mag. Verglichen mit Nystedts Vertonung von „Komm süßer Tod. Komm, sel’ge Ruh‘. Komm führe mich in Friede.“ entbehren die tonsilbigen „Lololos“ und „Lalalas“ der Folge von südamerikanisch-temperamentvoller Rhythmik durchsetzten Präludien und Fugen denn doch einer gewissen Tiefe…
Statt Villa-Lobos, dessen vokale Bearbeitung von Präludium und Fuge Nr. 8 aus dem Wohltemperierten Klavier folgte, hätte man lieber Bachs „Fürchte Dich nicht“ und „Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf“ ins Programm heben sollen. Dann nämlich wären die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der gleichnamigen Motetten des schwedischen Komponisten Sven-David Sandström sehr viel schöner zu hören gewesen. So musste man sich während der sprachintensiven und textimmanenten Vertonungen aus den Jahren 2007 und 2008 das barocke Original parallel hinzudenken.
In „Fürchte Dich nicht“ zischt und haucht der Chor den Imperativ rhythmisch beängstigend und kitzelnd, bis sich schlicht, aber wirkungsvoll das tonale „Ich bin bei Dir“ durchsetzt. Effektvoll lässt Marcus Creed Schlüsselwörter in gekonntem Crescendo und Decrescendo beleuchten und wie ein warmer Mantel legen sich die in wunderbaren Modulationen gesetzten Verse Paul Gerhardts um die bebenden Schultern des ängstlichen Menschen. Als Spiegelbild zur Bach-Motette ist Sandströms „Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf“ komponiert.
Zum Schluss kann das exzellente SWR Vokalensemble Stuttgart, das jetzt endlich keine langen Pausen aufgrund der für das Koblenzer Konzertpublikum unhörbaren Moderationen der Liveübertragung mehr „durchstehen“ muss, mit den Mahler-Bearbeitungen von Clytus Gottwald glänzen. Dem schwäbischen Spitzenchor steht dieser „Setzer“ besonders nahe, hat man hier doch schon Bearbeitungen von Werken aus den Federn von Richard Strauß oder Richard Wagner eingespielt. Auf dem gleichen Tonträger findet sich auch „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ von Gustav Mahler/Clytus Gottwald: Nach dem „Urlicht“ und „Im Abendrot“ vom gleichen „Duo“, beide 2008 publiziert, beschließt das Erstgenannte makellos intoniert den Konzertabend, der ohne Zweifel etwas mehr Ruhe hätte vertragen können.
Moment: War da nicht noch Samuel Barbers „Agnus Dei“, jenes nach einer BBC-Umfrage aus dem Jahr 2004 „traurigstes, klassisches Stück aller Zeiten“? Aber ja doch! Es beendete den ersten Part des Konzerts – wie die Stücke zuvor chorisch über jeden Zweifel erhaben. Doch wie Marcus Creed seine Sänger durch diese wunderbar ruhige, kontemplative und in ihrer Schlichtheit erschütternde Musik hetzte, ließ den sehnlichst auf dieses Stück Wartenden nur kurz aufhorchen – mit dem letzten Ton war es auch schon wieder vergessen, was auch den Rezensenten dazu brachte, es dem geneigten Leser fast zu unterschlagen. Wie schade…