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Die Musik eines Freundes

MAINZ (22. April 2024). 72 Kantaten des „Französischen Jahrgangs 1714/1715“ von Georg Philipp Telemann nimmt Prof. Felix Koch gemeinsam mit dem Neumeyer Consort und den Gutenberg Solosts seit 2020 für das Label cpo auf. Mittlerweile sind über die Hälfte eingespielt, drei Doppel-CDs bereits erschienen. auf. Koch zieht begeistert Bilanz:

Herr Prof. Koch, als das Telemann Project begann, stand man vor der Aufgabe, die 72 Kantaten des „Französischen Jahrgangs“ einzustudieren, aufzunehmen und im Konzert aufzuführen. Wie haben Sie die Aufbruchstimmung in Erinnerung?

Felix Koch: Der Beginn des Projekts fiel mitten in die Coronazeit mit ihrem ersten Lockdown. Da gab es erst mal viel Organisatorisches zu regeln. Aber wir konnten letztendlich planmäßig starten und ich bin unfassbar glücklich, dass wir das durften: Alles war ja vorbereitet, Partner, Sponsoren. Eigentlich befürchteten wir die Katastrophe, hatten mit dem SWR aber zum Glück einen super Kooperationspartner, der das Unmögliche möglich machte und uns – natürlich mit Auflagen wie Abstände, Testungen etc. – in sein Studio nach Kaiserslautern einlud. Somit hatten wir einen Raum, der groß genug war, ein engagiertes Tonmeisterteam, das sich auf so was einlässt, also auf Abstände zwischen drei und sechs Metern zwischen den Musikern. Die Aufbruchstimmung war also durchaus auch mit Aufregung verbunden. Und mit Unwägbarkeiten. So hatten wir eigentlich keine Ahnung von der Musik. Denn Aufnahmen, irgendwelche Orientierungspunkte, gab es ja noch nicht – das war und ist ja unsere Aufgabe! Ich hatte von unserem Herausgeber Peter Young immerhin Midi-Files bekommen, um mir das mit der Partitur mal anzuhören. Aber das hatte natürlich noch rein gar nichts mit der Musik zu tun, die wir dann aus den Noten rauskitzelten.

Wie haben Sie sich denn vorbereitet?

Felix Koch: Mit unserem Cembalisten Markus Stein habe ich mich an die Orgel gesetzt und wir haben uns da vierhändig und zweifüßig versucht durchzukämpfen. Somit konnten wir einen kleinen, allerersten Eindruck gewinnen. Aber trotzdem: Überhaupt nicht zu wissen, was da auf uns zukommt, hat meinen Blutdruck doch zweitweise sehr in die Höhe getrieben. Und vor den ersten Proben war ich super nervös. Aber nachdem wir dann gemerkt haben, wie gut und wie neugierig die Musizierenden, die sich da zusammengefunden haben, eigentlich sind, wie unglaublich gut die sich im Chor, im Orchester und bei den Solisten vorbereitet haben, spürten wir von der ersten Minute an den Sog, der uns in diese Stücke reingezogen hat. Da spürte man, wie das von Minute zu Minute wuchs und nach der ersten Probe war ich unglaublich glücklich: Es funktionierte! Und das war es dann, was die Aufbruchstimmung ausmachte: Wir begleiten einen Komponisten durch ein ganzes Kirchenjahr, von Sonntag zu Sonntag.

Mittlerweile wurde die Vorbereitung für die Mitwirkenden optimiert?

Felix Koch: Ja, wir nehmen sämtliche Stücke mit einer kleinen Instrumentalbesetzung vorab einmal auf, damit sich alle zumindest mal ein klangliches Bild von den jeweiligen Stücken machen können. Das vereinfacht die Vorbereitung sehr und wir merken, dass wir die Kantaten nach ein, zwei Lese- und Chorproben eigentlich schon fast aufführungsreif haben. Vor dem ersten Konzert reichen dann tatsächlich zwei große Probentage für die Soli und die große Tuttibesetzung. Und danach sitzt die Musik so, dass wir nach wenigen Wochen gleich zur Aufnahme schreiten können. Das klingt sehr ambitioniert, hat sich aber als für uns gut und bequem gangbarer Weg erwiesen. Allerdings funktioniert das auch nur mit dieser Gruppe, die relativ konstant ist. Das kommt der Arbeit natürlich zugute.

Wo steht das Projekt heute?

Felix Koch: Zu ersten steht es auf ganz soliden Füßen! In der heimischen Musikwelt des Rhein-Main-Gebiets ist es angekommen. Die Konzerte werden mittlerweile sehr gut an- und aufgenommen. Mittlerweile haben wir für das Label cpo über 50 Kantaten eingespielt, 40 davon in der erwähnten Kooperation mit dem SWR in Kaiserslautern, zehn weitere dann in der Frankfurter Festburgkirche mit ihrer für diese Musik tollen Akustik. Das Projekt wird deutschlandweit wahrgenommen. Als deutschsprachiges Projekt sind wir natürlich auch erstmal auf diesen Raum konzentriert. Sowohl die Konzerte als auch die bislang erschienenen drei Doppel-CDs wurden in Radio und Internet sehr gut besprochen. Durch eine gute Vernetzung auch mit internationalen Solistinnen und Solisten strahlt das natürlich auch in die Kollegenkreise aus: Wir bekommen auch von namhaften Sängerinnen und Sängern viele Anfragen, ob man mal mitmachen darf, Festivals wie die Tage Alter Musik im Saarland oder RheinVokal sind auf uns aufmerksam geworden, die Telemann-Festtage in Magdeburg haben uns eingeladen, wir sangen in Luxemburg ein Konzert mit Radiomitschnitt – es ist ein Projekt, das sich langsam aber stetig im Bewusstsein der Alte-Musik-Szene in Deutschland und den angrenzenden Regionen etabliert.

Wie sah der Weg aus, den Sie bislang zurückgelegt haben?

Felix Koch: Ausgehend vom Endprodukt, also einer professionellen CD mit Musik, die noch keiner kennt und die ja auch erst ediert werden muss, entwickelte ich am Schreibtisch ein Konzept: Die edierten Noten müssen in einem kleinen Kreis hörbar gemacht und zum Klingen gebracht werden, um überhaupt erstmal zu sehen, ob da Fehler drin sind. Dann sind Leseproben für das Orchester, Proben für den Chor und die Solisten anzusetzen, wo das Ganze zusammengefügt wird. Ich schneide jede Probe mit, um sie zum einen selbst nachzuarbeiten, aber auch, um den Musikern dann mit einer jeweils geschnittenen Version die Möglichkeit zu geben, sich nach und zwischen den Proben mit der immer intensiver werdenden Genese dieser Musik zu beschäftigen. Das Ergebnis wird dann im Konzert sozusagen nochmals kontrolliert und erst dann geht es ins Studio. Ehrlich gesagt musste mir dieser Weg von der ersten abgeschriebenen Note bis zur fertigen CD erstmal klar werden. Das verfeinerte und professionalisierte sich aber von Block zu Block und spielte sich dann alles super ein.

Sie betraten ja immer wieder musikalisches Neuland …

Felix Koch: Ja und genau das entzündete in uns allen einen Forschergeist – und das buchstäblich, denn wirklich alle, jede und jeder im Chor und Orchester und bei den Solisten war und ist immer wieder aufs Neue mit Feuereifer dabei. Sehr geholfen hat uns dabei, dass die internationale Brücke nach Australien, wo ja der Verlag Canberra Baroque von Peter Young sitzt, sehr stabil und tragfähig ist. Und das von beiden Seiten aus: Im vergangenen Jahr schlug sich das mit einem Besuch von Young in Deutschland nieder, während der er unsere Probenarbeit und ein Konzert miterlebte und sich von unserer Arbeit wirklich begeistert zeigte. Es gab also viele Meilensteine auf diesem Weg, die auch immer wieder für Überraschungen und tolle Erfahrungen aus der Musik heraus sorgen, die mich als Künstlerischen Leiter staunen lassen.

Zum Beispiel?

Felix Koch: Dass wir aus Telemanns Stücken und seiner Musik Ratschläge für unser tägliches Leben ziehen können: Das ist eigentlich eine klingende Lebensberatung! Wenn ich manchmal vor Problemen stehe und mit den Hufen scharre, klingt mir eine Arie im Ohr, die ganz sanft rät, sich in Geduld und Gelassenheit zu üben. Telemann vertont die theologischen Inhalte und Botschaften derart eingängig, dass seine Musik sie auf ihre Weise selbst formuliert. Die absolut genialen Kantaten-Libretti stammen ja vom protestantischen Theologen Erdmann Neumeister, der auch für viele Kantaten Johann Sebastian Bachs die Texte lieferte; aber hier ist es letztendlich Telemann, der die Botschaft dann musikalisch rüberbringt.

Eben sprachen wir über das musikalische Neuland, das Sie mit diesen Kantaten betreten. Viele der bislang hier interviewten Künstlerinnen und Künstler sprachen von der Faszination, mit den Kantaten des „Französischen Jahrgangs“ tatsächlich eine Art musikalische Terra incognita zu betreten. Wie vertraut ist Ihnen diese Klangwelt mittlerweile?

Felix Koch: Nach 50 Kantaten sind wir da mittlerweile gut reingewachsen. Es ist wie eine Fremdsprache, die man lernt und an der man Gefallen findet: durch die Literatur, also die Musik, und die Konversation, also das gemeinsame Musizieren. Tatsächlich durften wir mit den Kantaten des „Französischen Jahrgangs“ eine Klangsprache kennenlernen, die sich dadurch auszeichnet, dass sie harmonisch unglaublich ausgefeilt und differenziert ist. Es ist nicht seicht oder oberflächlich, sondern unfassbar interessant.

Was gab und gibt es zu entdecken? Welche Aspekte der Musik Telemanns kommen hier besonders gut zur Geltung?

Felix Koch: Telemann war ja stilistisch ein Kosmopolit und hier ist es der Esprit des französischen Barock, der in jeder Kantaten hör- und spürbar ist. Alle Arten der französischen Hoftänze sind vertreten und das Orchester wird, was französische Verzierungen angeht, genau angeleitet. Neu zu entdecken war für uns auch, dass es sich bei diesem Kantatenjahrgang nicht um „fromme Kirchenmusik“ handelt. Telemann wählt einen komplett neuen und revolutionären Ansatz: die Dramatik der französischen Oper, die er in die Arien und Chöre gelegt hat, reißt das Publikum quasi vom Hocker. Gerade in der Vokalmusik war das neu: Telemann schafft es dadurch, die theologischen Botschaften höchst spannend zu verpacken – und hat auch uns damit total begeistert. Dabei wird auch die Rolle des Vokalensembles, der Gutenberg Soloists, deutlich: Es ist kein Chor, der die Unterstützung des Orchesters braucht, sondern seine Aufgabe ist es vielmehr, die Instrumentalisten zu führen. Sehr gut lässt sich das zum Beispiel an einigen französischen Ouvertüren ablesen, die Telemann in den Kantaten verwendet: Er schreibt die Musik für Orchester und setzt dann einen Chor, einen unglaublich anspruchsvollen Chor, drauf, der fast nicht singbar ist. Auch die Gesangssolisten tragen in ihren opernhaften Arien den Text und zeigen dem Orchester, wo es lang geht: zum Beispiel in fast schon bühnenreifen Duetten oder Zwiegesprächen zwischen Gott und der Seele.

Kann man sagen, dass man Telemann gerade in seinen Kantaten besonders nahekommen kann?

Felix Koch: Das sehe ich ein bisschen differenziert: Telemann hat seinen Stil ja permanent dem Geschmack der Zeit angepasst. In unserem Projekt kommen wir ihm also in der Zeit nah, in der er die Kantaten des „Französischen Jahrgangs“ konzipiert und geschrieben hat, also in den Jahren zwischen 1713 und 1715. Aus diesen Werken können wir herauslesen, wie seine Arbeitsbedingungen in Frankfurt – und auch in Eisenach waren, denn hierfür waren die Kantaten ja gedacht. Um ein Beispiel zu nennen: Es wird deutlich, welche Instrumentalsolisten ihm dort zur Verfügung standen. Das ist ja durchaus abenteuerlich, wenn eine Arie von vier Blockflöten oder drei Fagotten begleitet wird oder wir vier Trompeten hören. Angesichts der teils extrem hohen Ansprüche an Chor und Solisten muss Telemann unglaublich gute Sängerinnen und Sänger zur Verfügung gehabt haben. Und auch der Chor – es muss einen gegeben haben, denn es gibt Passagen für Soli und Tutti – steht den Instrumentalisten in puncto Virtuosität in gar nichts nach.

Was ist das für ein Gefühl, diese Musik einerseits jetzt live im Konzert aufzuführen und sie dann, ganz passiv, auf CD zu hören?

Felix Koch: Ich empfinde es als überaus beglückend, überhaupt die Chance zu haben, mich mit Musik von Telemann zu beschäftigen, die vor uns so noch keiner kompakt aufgeführt hat. Das ist auch eine große Ehre für uns alle. Wir begegnen ihm in einer bestimmten Zeitspanne ganz intensiv und können ihn und seine Musik daher in der Gesamtheit besser einordnen und verstehen. Wenn wir die Kantaten im Konzert spielen, schicken wir Telemanns Esprit direkt ins Publikum und begeistern andere Leute damit. Vielleicht hatten die ja bislang ein ganz anderes Bild von ihm und bevorzugten Bach und Händel – jetzt aber lernen sie Telemann ganz neu kennen. Das gleiche Glücksgefühl empfinde ich, wenn ich die CDs anhöre, denn die Aufnahmen klingen wunderschön und ich kann mich darin absolut versenken. Allerdings höre ich sie nicht passiv, sondern ganz aktiv, weil ich aus den fertigen Aufnahmen Ideen und Inspirationen für die noch ausstehenden ziehe. Eine Aufnahme ist ja nie ein Endpunkt, sondern eine Zwischenstation, um wieder andere Sachen auszuprobieren.

Welche Rückmeldungen erhielten Sie von den Musikerinnen und Musikern im Orchester, den Soloists und den jeweiligen Artists in residence?

Felix Koch: Alle teilen wir miteinander eine unglaubliche Begeisterung für diese Musik und das gemeinsame Musizieren in genau dieser Gruppe. Jeder, der hier mitgesungen und mitgesielt hat, ist absolut angefixt von dieser Idee, einen ganzen Kantatenjahrgang einzuspielen und ihn komplett mitzutragen. Jeder fragt, wann es weitergeht und wann er oder sie wieder dabei sein kann. Das ist auch bei den Artists so. Eine derart ungeteilte Aufmerksamkeit und Bereitschaft mitzumachen habe ich bislang noch nicht erlebt. Es gibt keinen, der da keine Lust mehr hat und es könnte ewig so weitergehen – (lacht) schließlich hat Telemann ja über 1.700 Kantaten geschrieben!

Wird es denn weitergehen?

Felix Koch: Garantiert, denn durch dieses Projekt haben wir einerseits ein erstklassiges Ensemble gegründet und andererseits Strukturen entwickelt, die in die Zukunft weisen. Wenn die Aufnahmen abgeschlossen sind, wollen wir das Produkt natürlich auch vermarkten. Und das bedeutet natürlich, dass wir die Kantaten verstärkt im Konzert aufführen werden. Und wir werden Musik finden, die wir unbedingt aufnehmen müssen, wobei uns die tolle Kooperation mit dem wunderbaren CD-Label cpo hilft, denn es gibt da bereits Anfragen, was wir danach machen. Das ist hocherfreulich. Auch der SWR ist offen für weitere Projekte. Der Tonmeister, mit dem wir die ersten 40 Kantaten produziert haben, meinte, es sei nicht selbstverständlich, ein Ensemble und eine Gruppe zu erleben, die mit so viel Begeisterung und Schwung und mit so einer exzellenten Vorbereitung ins Studio kommen. Dieses Feedback gibt uns wiederum Energie und wir sehen das auch als Verpflichtung weiterzumachen.

Sie sind ein bekennender Telemann-Anhänger. Inwiefern hat Ihre intensive Beschäftigung mit dieser Musik ihr Verhältnis zum Komponisten, Ihren Blick auf seine Tonkunst geändert und vielleicht auch geschärft?

Felix Koch: Telemann ist mir noch viel nähergekommen, als er sowieso schon war. Dieses typisch Französische in seiner Vokalmusik war mir aber absolut neu. Über die Kantaten habe ich daher auch viel mehr vom Original der französischen Oper gelernt und begriffen. Ich verstehe jetzt viel besser, was ein Lully und ein Rameau machen, weil Telemann es einem mit seiner Musik geradezu exemplarisch erklärt. Ich komme also über eine Sekundärquelle an die Primärquelle – das aber viel kundiger und dadurch intensiver. Was mir in den Kantaten des „Französischen Jahrgangs“ auch auffällt, ist die geniale Verbindung zwischen Musik und Text, zwischen Komponist und Librettist. Das dokumentiert eine so gute Zusammenarbeit, ein so tiefes Verstehen des jeweils anderen. Die Musik transportiert den geistigen Inhalt derart ideal, dass ich mir sogar eine „Moralpredigt“ gerne anhöre und sie annehme. Wenn man den Text nur liest, kann man ihn mit dem Verstand erfassen. Telemanns Musik aber öffnet eine emotionale Tür. Was mich auch begeistert, ist die Vielfalt und die dennoch stets gleichbleibende hohe Qualität: Bei diesen 72 Kantaten ist auch nicht eine dabei, wo ich denke, da hat sich Telemann weniger Mühe gegeben. Vielleicht ist der Choranteil mal etwas kleiner, dafür hören wir aber dramatische und berührende Arien. Oft ist es bereits der Schlusschoral, der so passgenau gesetzt ist, dass mich die Musik ganz intensiv berührt. Durch diese intensive Beschäftigung mit Telemann habe ich eigentlich das Gefühl, dass er mir bei meiner Arbeit sehr interessiert über die Schulter schaut und wir eigentlich richtig gute Freunde geworden sind.

Weitere Informationen zum Telemann project gibt es hier: https://www.telemann-project.de/

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