Transparenter Chorklang
WORMS (28. September 2024). Historisch gesehen sind Knabenchöre die Keimzelle der Chormusik überhaupt, denn erst spät erlaubte die Kirche den Damen, in ihren Mauern die Sopran- und Altregister zu besetzen. Bis dahin war Singen reine Männer- und eben Knabensache. Dass Knabenchöre in Sachsen und Bayern teilweise schon zum Immateriellen Kulturerbe gehören, zeigt, wie beachtens- und schützenswert sie sind. Und so horcht man gerne auf und hin, wenn ein Vertreter dieses Genres ein Konzert gibt. In der Wormser Dreifaltigkeitskirche war jetzt die Wuppertaler Kurrende zu Gast.
Der Chor feiert in diesem Jahr sein hundertjähriges Bestehen. Von dort wechselte Martin Lehmann 2012 als Dirigent zum Windsbacher Knabenchor, um die Nachfolge von Karl-Friedrich Beringer anzutreten. Mit seinen Nachfolgern war der Kurrende indes nicht allzu viel Fortune beschieden, bis Lukas Baumann 2022 die musikalische Leitung übernahm. Der 28-jährige Musiker hat bereits langjährige Erfahrung in der Knabenchorarbeit: Er sang selbst (unter Lehmann) in der Kurrende und bekleidete dann verschiedene Assistenzstellen in Jena sowie Suhl und zuletzt in Windsbach.
Dass Baumann mitunter bei den Besten gearbeitet und dabei sicherlich auch gelernt hat, kommt den Wuppertalern nun voll zugute: Mit ihm steht ein engagierter Dirigent vor den Knaben- und Männerstimmen, der den Chor in eine ganz bestimmte Richtung lenkt, ohne seinen früheren Chorleiter und letzten Chef zu kopieren. Zu hören ist ein klarer Knabenchorton, großer Wert wird auf die Sprache gelegt, was im Dirigat auch immer wieder gestisch eingefordert wird.
In Worms präsentierten die Sänger ein Programm, das mit 20 Stücken einmal quer durch die Epochen führte: von Giovanni Pierluigi da Palestrina über Johann Schein und Heinrich Schütz, Felix Mendelssohn Bartholdy und Anton Bruckner bis zum 1994 geborenen Karl Hänsel. In der wohlmeinenden Akustik der Dreifaltigkeitskirche, die allerdings auch nichts verdeckt (was hier auch kaum nötig war), erlebte man einen transparenten und harmonischen Chorklang, bei dem besonders die reinen Sopranstimmen mit wohl dosierter und nie übersteuerter Kraft gefielen. Anders als bei vergleichbaren Ensembles rekrutieren sich Tenöre und Bässe in der Kurrende mitunter auch aus bereits älteren Männerstimmen. Dem homogenen Gesamtklang tut das indes keinen Abbruch.
Nicht nur einzelne Werke sind anspruchsvoll, sondern auch die Bandbreite des vorgestellten Repertoires. Das Kyrie aus der Palestrinas Missa Papae Marcelli stand ziemlich zu Beginn, die anderen Stücke aus früheren Epochen erklangen in der zweiten Hälfte. Hier drosselte Baumann das Tempo arg, was die Knaben in puncto Intonation herausforderte. Aber auch wenn es kleine Unwuchten gab, fing sich der Chor im Stück selbst erstaunlich schnell und fand wieder in die Spur, ohne dass es zu „Folgeschäden“ kam. Ein Grund war sicher die Aufmerksamkeit, die die Choristen ihrem Dirigenten schenkten und manch „singender Meter“ bestritt das gesamte Programm auswendig. Respekt!
Ihre Stärken spielte die Wuppertaler Kurrende eindeutig in der zeitgenössischen Musik aus: Hier merkte man, wie Baumann seine Sänger für solche Klänge begeistern kann. Vor allem die Stücke Gustav Gunsenheimers, der im März seinen 90. Geburtstag feiern konnte, liegen den Jungs besonders: Seine Vertonungen „Die Heilung des Blinden“ und „Jesus du die Tochter Jairus‘“, die stilistisch an die Motetten Zoltán Kodálys erinnern, sind Knabenchorliteratur par excellence. Die eigens für den Chor komponierten Werke „Beschirm uns Gott“ von Heinz Rudolf Meier sowie „Alles, was Ihr tut“ von Alwin Schronen sind der Kurrende auf den Leib geschrieben, aber auch das engagiert ausgesungene „Cantate Domino“ des litauischen Komponisten Vytautas Miškinis brauchte keine Vergleiche zu scheuen. Mit diesem Tonsetzer hatte man notabene den zweiten Jubilar im Programm: Miškinis wurde im Juni 70 Jahre alt. Anton Bruckner war Nummer drei: Sein Geburtstag jährte sich im September zum 200. Mal.
Leider hatten nicht allzu viele Zuhörer den Weg in die Dreifaltigkeitskirche gefunden – Knabenchöre sind eben ein Nischenprodukt, bei dem vor allem große Namen oder Traditionen Magnetcharakter haben. Gleichviel: Das Konzert, bei dem Dekanatskantor Giuliano Mameli den verhinderten Gastorganisten Jens-Peter Enk aus Wuppertal mit zwei Werken geschmackvoll vertrat, war ein Erlebnis. Die Wuppertaler Kurrende gastiert im Frühjahr erneut in der Region und tritt am 15. März im Speyerer Dom und am 16. in St. Martin auf.