Wir alle sind Gipfelstürmer
ST. GOARSHAUSEN (27. Juni 2015). Als der Graf seinen Fans mitteilte, dass er seine sängerische Karriere nach der aktuellen Tour beenden würde, war die Gemeinde perplex. Dabei beherzt der illustre Künstler nur die Weisheit, dass man aufhören solle, wenn es am schönsten sei. Auf der Loreley zog er mit „Unheilig“ noch einmal alle Register.
Ein letztes Mal hält er Hof im Konzertrund hoch über dem Rhein: Bereits vor zwei Jahren gastierte der Graf auf der Festspielbühne der Loreley. Für den Weg zur Audienz kann man die Autobahn wählen. Oder fährt über Land, wo sich einem plötzlich ein wunderbares Bild, buchstäblich eines „für die Götter“ bietet: Scharf bremst man an einer der zu passierenden Einfahrten entlang der Bäderstraße, denn unweit des gelben Ortsschilds prangt die Blechtafel, die einen über die Gottesdienste der Kirchengemeinden informiert – und direkt daneben wird für das Konzert von „Unheilig“ geworben! Die Geistlichkeit hier hat Humor. Oder ein Konzertticket. Oder beides.
Doch bevor man mit dem Grafen und seinem musizierenden Gefolge die Gipfel erstürmen kann, hat es „Unheilig“ eher uneilig und lässt den Vorbands über zwei Stunden Zeit, das Eis zu brechen. Dafür ist der dröge Frontman von „Fahrenhaidt“ allerdings so talentiert wie weiland die Titanic. Das aggressive Geschrammel von „Megaherz“ will auch nicht so recht begeistern. Also nutzt man die Zeit für einen Besuch des ausladenden Fanartikel-Marktes, wo einem neben Schlüsselanhängern, T-Shirts und Kappen vor allem eine textile Graf-Puppe mit neckischer Bartapplikation ins Auge sticht. Das gleiche von Helene Fischer und man hätte ein singendes Paar aus Kent und Barbie – da wird es selbst manchem „Unheilig“-Fan durchaus unheimlich.
Und endlich läuft auch der „Gipfelstürmer-Express“ ein: Die Bühne wird von einer düsteren Lok-Attrappe beherrscht, im Vordergrund glimmen Leuchterkerzen. Mit Volldampf nimmt der zappelige Graf Fahrt auf: hin zum „Berg“, „Hinunter bis auf eins“, dem „Himmel so nah“. „Alles hat seine Zeit“ und zwar in den „Lichtern der Stadt“, im „Goldrausch“, „Zwischen Licht und Schatten“. Schließlich ist man „Held für einen Tag“, es ist „Wie in guten alten Zeiten“. „Unheilig“ gibt auf der Abschiedstournee noch mal alles, diese extravagante Mischung aus Rock und Schlager, deren Amplituden von Rammstein bis Andrea Berg ausschlagen.
Die Stimmung auf der Loreley ist bestens, das Abendlicht taucht die Atmosphäre in einen warmen Schein – eigentlich braucht es die eingespielten Videos von schneebedeckten Gipfeln gar nicht. Der Graf ist gut gelaunt und grundsympathisch, wie er da mit den jüngsten Konzertbesuchern in der ersten Reihe plaudert. Und wie er erzählt, dass die Mütter die Allerbesten seien. Daher hat er auch für seine ein Lied ersonnen: „Unter Deiner Flagge.“ – so also klingt Heintje 2.0.
Das Balladeske der „Unheilig“-Songs bekommt seinen Drive durchgehend durch Bass und Beat, alles will irgendwie immer nach vorne, nach oben drängen. Leider sind auch die Texte so und scheinen der Broschüre zu einem Motivationsseminar entnommen. Doch das ist eigentlich ganz egal, denn da ist eben diese Stimme: Mit aristokratischem Timbre erzählt der Graf seine Geschichten von Gefühlen und Erfahrungen. Herrlich, dieses warme Brummen, dieses sonore Raunen. Und plötzlich fühlt sich noch der ärmste Tropf selbst wie ein Gipfelstürmer.