Eine „ganz neue Stimme des 18. Jahrhunderts“?
MAINZ – Noch immer steht er im Schatten des übermächtigen Vaters Johann Sebastian und des ungleich populäreren Bruders Carl Philipp Emanuel: Wilhelm Friedemann Bach (1710-1784). Dabei schlagen gerade seine Kantaten einen spannenden Bogen von der Orientierung am Konservativen bis hin zu revolutionär-musikalischem Denken in Richtung Klassik. Dieser kreative Freigeist war deutlich zu spüren, als jetzt in der Mainzer Augustinerkirche vier wieder entdeckte Kantaten zur Aufführung gelangten.
Was sich der Komponist nie hätte erträumen mögen, das holten seine Werke für ihn nach – wenn auch sicherlich nicht ganz freiwillig: In den Wirren der Nachkriegszeit „reiste“ das Kantaten-Werk des ältesten Bach-Sohnes Wilhelm Friedemann bis nach Kiew. Verschollen geglaubt schlummerte die Sammlung bis ins Jahr 1999 im Archiv-Museum für Literatur und Kunst der Ukraine, wo sie schließlich vom Bachforscher Christoph Wolff aufgespürt wurde.
Mittlerweile ist das Notenmaterial des Archivs der Sing-Akademie zu Berlin nach Deutschland zurückgekehrt, wo es im Bach-Archiv Leipzig aktuell für eine Werkausgabe unter der Federführung des Carus-Verlags bearbeitet wird. Vier der insgesamt 20 Kantaten führte jetzt ein Vokalensemble mit den besten Stimmen des Bachchor Mainz und eigens für dieses Projekt engagierten Profi-Chorsängern gemeinsam mit dem Barockorchester L‘arpa festante München auf.
Das Hören dieser vier über lange Zeit verschollenen geglaubten Kantaten von Wilhelm Friedemann Bach (1710-1784) hatte tatsächlich ein wenig etwas vom Öffnen einer Schatzkiste, zumal die Künstler die Werke zuvor für eine CD eingespielt und den „Inhalt“ somit präsentabel aufpoliert hatten. Gemeinsam mit seinem instrumentalen Partner und vor allen dem brillanten Solistenquartett aus Dorothee Mields (Sopran), Gerhild Romberger (Alt), Georg Poplutz (Tenor) und Klaus Mertens (Bass) gelang dem Vokalensemble unter der Leitung von Ralf Otto eine packende Interpretation der ausgewählten Festtags-Kantaten.
Wenn man bedenkt, dass sich Ralf Otto im Vorfeld mit verunsicherten Nachfragen seitens seiner Solisten ob des bearbeiteten Notenmaterials konfrontiert sah, überraschte die flexible und galante Adaption des bislang „Unerhörten“ äußerst positiv. Als „bis an die Grenze des Unspielbaren“ hatte der Dirigent diese Musik im Vorfeld charakterisiert. Und dennoch wirkte die Interpretation mühelos und kenntnisreich: Dem Publikum wurde etwas „ganz Neues“ kredenzt – die Musiker hingegen schienen „ihren Bach“ mittlerweile gut zu kennen.
Die fein gewobene Polyphonie der eröffnenden Kantate „Wohl dem, der den Herrn fürchtet“ wies bereits beide Eckpunkte des Ausdrucksspektrums dieser Bachschen Vokalmusik auf: auf der einen Seite scharf gestochene Koloraturen im kunstvoll verwobenen Eingangschor, auf der anderen Seite ein Duett zwischen dem schwerelosen Sopran Dorothee Mields‘, die den Widerspruch zwischen robuster Präsenz und delikater Zurückhaltung negierte und dem erdigen, wohlig warmen Alt Gerhild Rombergers, das den „Ruhestand des Geistes“ besang. Bereits hier setzte der Klangkörper aus Vokalisten und Instrumentalisten die Maßstäbe des Abends und überzeugte mit weit gespannten Dynamikbögen voller überraschender Wendungen.
Einer der intimsten Momente des Konzerts geriet im Anschluss – übrigens ohne Chor: In der Sinfonia d-moll spielte L’arpa festante das getragene Adagio wie einen Nebel über taubenetztem Herbstlaub, um in der strengen Kontrapunktik des Allegro e forte einsetzendem Regen gleich zum prasselnden Unwetter anzuschwellen.
So könnte man immer weiter schwärmen: Von der subtilen Sinfonia der Kantate „O Wunder, wer kann dieses fassen“, dessen Hörner derart agil einher preschten, als wollten sie dieses geistige „Fassen“ als ein haptisches verstehen oder vom rhythmisch verschachtelten Arioso von Sopran und Bass, das in die Arie „Komm, du holdes Kind des Lebens“ mündet, die Klaus Mertens sinnlich und zärtlich gestaltete. Und sorgte nicht auch der jähe Stimmungswechsel zwischen dem unisono geführten Eingangschor und dem respektvollen Bass-Rezitativ zu Beginn der Kantate „Ach, dass du den Himmel zerrissest“ genauso wie die geradezu plastische Schilderung der zitternd heulenden Teufel im Alt-Rezitativ für Herzklopfen? Geschmackvoll platzierte Georg Poplutz dazwischen seine pastorale Tenorarie „Willkommen, willkommen, Erlöser der Erden“.
Atemberaubende Tempi und halsbrecherische Diktionen stellten nicht nur an Instrumentalisten und Solostimmen höchste Anforderungen, sondern auch an die Chorstimmen, die ebenfalls äußerst souverän reagierten. Natürlich begeisterten die jubelnden Chöre, doch erwiesen sich besonders die schlichten Schlusschoräle als kleine Juwelen, in denen Otto tiefgründige Exegese über oberflächliche Effekte stellte. Hier war Wilhelm Friedemann dem Herrn Vater ganz nah. Und dennoch beschränkte sich der Sohn nicht auf das Verwenden stilistischer und formaler Schablonen, woran ja beispielswiese die gefühlten 592 Matthäuspassionen seines Bruders Carl Philipp Emanuel zuweilen kranken, sondern kam durch Bewahren und Erneuerung zu ganz eigenen, spannenden Ergebnissen.
Inwiefern die Kantaten Wilhelm Friedemann Bachs tatsächlich die von Peter Wollny, dem Herausgeber der Gesamtausgabe Wilhelm Friedemann Bach formulierte „ganz neue Stimme des 18. Jahrhunderts“ artikulieren können, sprich: ob sich diese Musik in den Spielplänen der Oratorien- und Kammerchöre sowie Festivals und, ja auch in festlichen Gottesdiensten wiederfinden oder doch nur etwas für Spezialisten und Liebhaber sein wird, bleibt neugierig abzuwarten.
Die CD mit den vier musizierten Kantaten wird ab November 2010 im Fachhandel erhältlich sein.