Chor tacet
WINDSBACH (21. Juli 2020). „Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will“, heißt es im Bundeslied der ersten sozialdemokratischen Partei 1863. Doch der Textdichter Georg Herwegh meinte damit den „Mann der Arbeit“, während es im März das Coronavirus war, das nicht nur in Windsbach alles stillstehen, sondern auch den Knabenchor verstummen ließ: Am 20. März, eine Woche nach dem bundesweiten Shutdown, wurde das Sängerinternat auf Geheiß des Ansbacher Gesundheitsamts geschlossen, die Auftritte mit Bachs Matthäus-Passion in Nürnberg und Frankfurt entfielen, das Chorgeschehen kam komplett zum Erliegen.
Doch nur analog, denn digital versuchten Chorleiter Martin Lehmann und sein Team in Windsbach, mit allen Sängern in Verbindung zu bleiben: Instrumentalunterricht und Stimmbildung wurden so gut es geht via WhatsApp oder Skype erteilt. Man machte sich rasch mit dem Konferenzprogramm Zoom vertraut, um via Internet mit einzelnen Stimmgruppen zu proben, wofür in den Unterrichtsräumen aber erstmal die technischen Voraussetzungen geschaffen werden mussten. Alexander Rebetge und Martin Lehmann richteten Online-Tutorials ein, um die Jungs zuhause mit Lernhilfen zur Chormusik, Stimmbildungseinheiten, Musikrätseln und -theorie sowie Hintergrundinformationen zu den aktuellen Chorwerken zu versorgen. Parallel dazu trudelten die Absagen aller Konzerte bis einschließlich Juli ein.
Bis zu den Osterferien wurden dann online rund 65 Prozent aller Schüler instrumental unterrichtet, etwa 85 Prozent erhielten Stimmbildung und knapp 100 Prozent schalteten sich in die dreimal wöchentlich stattfindenden Chorproben. „Diese waren jetzt nicht unbedingt dafür da, um künstlerisch weiterzukommen oder musikalisch nachhaltig arbeiten zu können, sondern dienten vor allem dazu, dass der soziale Kitt, den unsere Chorarbeit ja auch bildet, nicht brüchig wird“, erzählt Martin Lehmann. Auch mit den Eltern stand man verstärkt in Kontakt und startete diverse Aktionen in den sozialen Medien. Da natürlich auch die Vorsingtermine vom Lockdown betroffen waren, wurden diese ebenfalls online abgehalten, worüber auch die Presse berichtete
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Nachdem die Republik in kleinen Schritten langsam zur Normalität zurückzufinden versuchte, kehrten nach den Osterferien zuerst die Zwölftklässler und die Schüler der vierten Jahrgangsstufe ins Sängerinternat zurück; es folgte die Hälfte der elften Klasse. Zwischenzeitlich hatten sich die Knabenchöre in Bayern und deutschlandweit vernetzt, um die Öffentlichkeit über die Probleme der Knabenchorarbeit durch Corona zu informieren; hierüber wurde in Zeitungen, im Rundfunk und Fernsehsendungen wie beispielsweise der Tagesschau in der ARD berichtet.
Um die Wiederaufnahme des Internatsbetriebs gewährleisten zu können, wurde auch in Windsbach ein Hygienekonzept entwickelt, das einen Abstand von drei Metern sowie das Singen in Kleinstgruppen mit Maske oder Visier vorsah. Die Ablehnung dieser Maßnahmen durch das Gesundheitsamt – Knabenchöre wurden in der Hygieneordnung des Freistaats unter Musikschulen geführt – ließ die Verantwortlichen Briefe an Ministerpräsident Markus Söder, Innenminister Joachim Herrmann und Kultusminister Bernd Sibler schreiben, worauf eine Einladung zum Gespräch nach München erfolgte. Am 28. Mai trafen sich alle vier bayerischen Knabenchorleiter aus Augsburg, Bad Tölz, Regensburg und Windsbach sowie deren Manager mit Kunstminister Sibler zum konstruktiven Gedankenaustausch im Ministerium.
Während man in Windsbach die kommende Konzertsaison unter den veränderten Umständen plante, wurde es im Internat und Internet erneut ruhiger: In der Zeit der Pfingstferien fanden weder Instrumentalunterricht noch Stimmbildung statt; eine Probe für die Knabenstimmen wurde auf freiwilliger Basis angeboten. Nach den Ferien teilte Kultusminister Sibler (der sich nochmals ausdrücklich für das informative Gespräch Ende Mai in München bedankte) persönlich in einem Telefonat mit, dass der Chorunterricht in Kleingruppen mit strengen Abstands- und Hygieneregeln sowie Auflagen bezüglich Probendauer und Lüftungsintervallen erlaubt wurde. Geprobt wurde bis zum 19. Juni weiterhin online, Stimmbildung und Instrumentalunterricht wurden in Windsbach wieder „analog“ gegeben.
Drei Tage später waren dann bis auf die Schüler der vierten und der fünften Gymnasialklasse sowie die Realschüler (die im 14 tägigen Wechsel) alle Choristen wieder im Sängerinternat eingezogen, wo man langsam den Probenbetrieb in Kleingruppen sowie Einbindung der zuhause gebliebenen Schüler online auch an den Wochenenden wieder hochfuhr. Statt großer Konzerte sang der Knabenchor bis zu den Sommerferien zwei Motetten in Nürnberg sowie Chorandachten in Windsbach, Pappenheim, Arberg und das Abschlusskonzert für die Absolventen im Gut Wolfgangshof. Das Ziel: Jeder Chorsänger sollte mindestens einen Auftritt mitgestalten. Die Botschaft: Der Windsbacher Knabenchor ist wieder da.
Martin Lehmann ist nicht nur ein exzellenter Chordirigent, sondern auch Realist: „Corona hatte auf den Betrieb in Windsbach schwerwiegende Auswirkungen. Das ist wie bei einer Mannschaft im Hochleistungssport: Wenn man da nicht ständig buchstäblich am Ball bleibt, kriegt man schnell große Probleme.“ Und die äußerten sich in Windsbach bei vielen mit einem früheren Einsetzen des Stimmbruchs, der Wissenstransfer von den Älteren zu den Jüngeren war komplett gekappt, die Konzentration litt vehement. Dazu kam ein abnehmendes musikalisches Verständnis, fehlender Stimmsitz, das Wegbrechen von Chorparametern wie Dynamik, Hören, Dirigat, Sprache und natürlich der mehrstimmige Zusammenklang.
Braucht der Chor nach sechs Wochen Sommerferien aufgrund des Ausscheidens der Absolventen etwa zwei Monate, um sein angestammtes Niveau zu erreichen, rechnet Lehmann aktuell mit einer deutlich längeren Stabilisierungsphase. Durch den kompletten Zusammenbruch des Konzertmarkts bundes- und weltweit kann der Chor durch abgesagte oder verschobene Konzerte derzeit außerdem auf keinerlei Einnahmen bauen. Trotzdem sind alle Mitarbeiter des Chorzentrums zuversichtlich, dass die nun erfolgte Annäherung an den Normalzustand vor Corona – beispielsweise durch regelmäßige Ensembleproben und erste Kleingruppen-Auftritte mit zwei Metern Abstand von Sänger zu Sänger – unter veränderten Vorzeichen ein Modell ist, den Chor sicher durch die bewegten Zeiten zu führen.
Corona hat die Welt verändert – wie sich das in letzter Konsequenz auf das Internat und den Knabenchor auswirkt, bleibt abzuwarten. In der Motette von Rudolf Mauersberger, die der Chor eigentlich in seinen Konzerten jetzt singen wollte und die die wüst liegende Stadt Dresden beschreibt, heißt es: „Bringe uns, Herr, wieder zu Dir, dass wir wieder heimkommen! Erneue unsre Tage wie vor alters.“ Also bleiben wie bei Paulus im ersten Korintherbrief auch hier: „Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei“ – wobei aktuell wohl die Hoffnung die größte unter ihnen sein dürfte …