Altbekannte Musik neu erfunden
NÜRNBERG – Mozarts „Requiem“ mit einem Knabenchor? Kein Problem. Aber Schuberts As-Dur-Messe mit ihrer ausladenden Romantik? Ist das von Knaben, oft Knäblein noch, überhaupt zu meistern? Einspruch abgelehnt, stehen hier doch nicht irgendwelche Sängerknaben auf der Bühne, sondern der Windsbacher Knabenchor unter Karl-Friedrich Beringer.
Das Konzert lässt einen übervoll von zauberhaften Eindrücken zurück und es gilt, sich erst einmal zu sammeln, will man davon berichten: Fand man die ineinandergreifende Harmonie der Solisten am schönsten? Diese Entsprechung von Ruth Ziesaks Sopran und Thomas Cooleys Tenor in hell klingender, ja fast schwebender Leichtigkeit auf der einen Seite und der Mezzosopran von Monica Groop mit dem Bass Thomas Laskes in satter Noblesse und kerniger Klangkraft auf der anderen? Oder das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, das stets auf den Punkt spielt und sich geschmackvoll seinem vokalen Klangkörper als eleganter Partner empfiehlt? Nein, das eine mag man nicht ohne das andere sehen, hören, haben.
Die ersten Töne des „Kyrie“ in Franz Schuberts As-Dur-Messe vermitteln den Eindruck, als würde hier ein Streichquartett sitzen und nicht das DSO: Wie solistisch besetzt fügen sich die verschiedenen Stimmen zu einem unglaublich transparenten Ganzen, auf das sich der Klang des Windsbacher Knabenchores wie eine leichte Firnis legt.
Keine Frage, hier haben sich welche gesucht und gefunden: Die Windsbacher und die Berliner sowie die vier Solisten haben auch an diesem Abend in der Nürnberger Meistersingerhalle ein ausverkauftes Haus – wie zuvor in Dresdens Frauenkirche und der Berliner Philharmonie.
Schon mit der Schubert-Messe beweist der Chor einmal mehr seine erstaunliche Wandlungsfähigkeit und Flexibilität: Ihm gelingt diese sinfonische Chormusik genauso gut wie eine Bach-Motette. „Hüben wie drüben“ braucht es nur einen Fingerzeig Beringers, und seine Jungs stehen Gewehr bei Fuß, lassen ein Crescendo mit großer Geste aufblühen und fahren den Klang diminuierend, doch stets präsent auf ein Minimum zurück.
Über die einzigartige Brillanz dieses Chores, den silbernen Klang seiner Knabenstimmen, die unbändige, aber perfekt dimm-bare Stahlkraft der Tenöre und den satten Klang der Bässe, die doch noch alle die Schulbank drücken, ist schon so viel geschrieben worden, dass man dies fast schon als selbstverständlich hinnehmen darf, doch nie möchte. Und als wollte Beringer dem Rezensenten ein neues Feld eröffnen, setzt er einen besonders deutlichen Akzent auf den gesungenen Text – bei Mozart wie bei Schubert.
Letzterer zuerst: „Tu solus altissimus“ singt der Chor rezitierend und marschiert „cum sancto spiritu“ los; die „vivos“ werden mit einer deutlich drängenden Betonung bedacht, die „mortuos“ mit fahlem Piano. Das „Hosanna“ imitiert die Jagdhörner, fast schon munter kommt der „Gelobte“ daher und das „Miserere“ hingegen erklingt fast schon wieder gehaucht und kehrt mit dem Wunsch nach Frieden zum geseufzten „Kyrie“ des Anfangs zurück. So wird aus dieser Messe ein Schuh, wie maßgeschneidert.
Gleiches gilt für Mozarts „Requiem“ in der Süssmayr-Fassung: Klanglich überzeugt der Windsbacher Knabenchor mit gestochen scharfen Koloraturen und dichter Geschlossenheit. Hier ist kein Platz für vokale Einzelkämpfer – im Solistenquartett übrigens ebenso wenig: Das Sagen haben Homogenität und Harmonie.
Besonders bei Mozart fällt das tiefe Verstehen der Textimmanenz auf, denn Beringer folgt hier nicht dem Gängigen. Die Männerstimmen werden beim „Rex tremendae“ an überraschend kurzer Leine gehalten und das „Lacrimosa“ erklingt keineswegs wie so oft weinerlich – Beringer lenkt das Ohrenmerk neu auf dieses schon so oft Gehörte, am deutlichsten im finalen „Quia pius es“: Wo andere einen fulminanten Schlusspunkt im Fortissimo setzen, lassen die Musiker den Klang entschwinden, sich auflösen. Und doch hallt er noch lange nach.