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Er ist der Mittler worden

DRESDEN (6. November 2022). Wer schon einmal eine Motette von Heinrich Schütz gehört oder gesungen hat, wird sich sicherlich gerne an dieses Klangerlebnis erinnern: dieses Schwelgen in der Polyphonie, die Klarheit des Satzes, die Führung der einzelnen Stimmen. Am 6. November 2022 gedenkt die Musikwelt des 350. Todestags dieses Großen und Wegweisenden in der deutschen Musik.

Geboren wird Heinrich Schütz am 9. Oktober 1585 in Köstritz als zweites von acht Kindern der Eheleute Christoph und Euphrosyne Schütz, die seinerzeit dort einen Gasthof führen. Später erwirbt der Vater in Weißenfels ein Wirtshaus. Geachtet und zum Bürgermeister gewählt ermöglicht er seiner Familie einen gewissen Wohlstand. Der junge Heinrich singt als Knabe im Chor und fällt 1598 Landgraf Moritz von Hessen-Kassel auf, der im Hof der Familie Quartier bezogen hat. Beeindruckt von der Stimme des Knaben lädt der ihn ins Internat „Collegium Mauritianum“ nach Kassel ein, wo Schütz ab 1599 in die Grundlagen der Musik eingeführt und auch in Sprachen, Theologie, Mathematik und den Naturwissenschaften unterrichtet wird.

Derart bestens ausgebildet stellt sich schließlich die Frage nach der Berufswahl. Weil es für Musiker damals nur zwei Anstellungsmöglichkeiten gibt – am Hof oder in der Kirche –, lässt sich Schütz von den Eltern überzeugen, zunächst eine Alternative zu suchen und studiert ab 1608 (wie nach ihm Georg Philipp Telemann und dessen Patensohn Carl Philipp Emanuel Bach, Georg Friedrich Händel oder Robert Schumann) in Marburg die Jurisprudenz.

Da der Landgraf Schütz jedoch als Musiker behalten möchte, ermöglicht er ihm 1609 ein Studium bei Giovanni Gabrieli in Venedig, dem damals einflussreichsten Musiker und Organist am Markusdom. Hier erlernt der Sachse die seinerzeit modernen Kompositionstechniken, vor allem die der Cori spezzati: den mehrchörigen Satz. Am Schluss seiner Lehrzeit veröffentlicht Schütz sein erstes Werk, die „Primo libro di madrigali“, das erste Buch der Madrigale.

1612 kehrt Schütz an den Hof seines Gönners nach Kassel zurück und tritt dort in die Hofkapelle ein, arbeitet als Privatsekretär und „Prinzenerzieher“. Ein Jahr später wird er zweiter Hoforganist und besucht mit seinem Fürsten den Dresdner Hof, wo der sächsische Kurfürst das Talent des jungen Musikers erkennt. Es kommt zu ersten Verpflichtungen vor Ort und 1614 schließlich zur Abwerbung, was zu diplomatischen Spannungen zwischen beiden Regenten führt. Johann Georg I. gewinnt und Schütz übernimmt 1617 die Leitung der kurfürstlichen Kapelle in Dresden. Diese Stelle wird er bis zu seinem Tod am 6. November 1672 bekleiden. Sie ist eine der wichtigsten Positionen des Musiklebens seiner Zeit: Hier verantwortet Schütz nicht nur die Hofmusik, sondern auch die Ausbildung der Chorknaben in Gesang, musikalischer Theorie und Orchesterspiel. Zudem komponiert er, darunter die 1619 veröffentlichten „Psalmen Davids“.

Auch in den Zeiten des 30-jährigen Kriegs ist Schütz als Musiker gefragt: zum Beispiel 1618, als er gemeinsam mit Samuel Scheidt und Michael Praetorius die Magdeburger Dommusik neu aufstellt; zudem nimmt er 1619 mit diesen Kollegen und Johann Staden die Orgel in Bayreuth ab (die zwei Jahre später unglücklicherweise beim Brand der Stadt zerstört werden wird). 1625 vollendet Schütz seine „Cantiones Sacrae“, 1628 den „Becker Psalter“, 1629 erscheint der erste Teil der „Symphonia Sacrae“.

Reisen nach Italien (1628) und Dänemark, wo er zwischen 1633 und 1635 am Kopenhagener Hof als Kapellmeister wirkt, nehmen den Komponisten buchstäblich aus der Schusslinie. Hier entstehen die „Musicalischen Exequien“. Zurück in Dresden veröffentlicht Schütz 1636 und 1639 seine „Kleinen geistlichen Konzerte“. Der Krieg zwingt ihn erneut nach Dänemark, wo er den zweiten Teil der 1647 erschienenen „Symphonia Sacrae“ vollendet (Teil III folgt 1650), ein Jahr später wird seine „Geistliche Chormusik“ gedruckt. In den Folgejahren entstehen weitere geistliche Gesänge, Passionsvertonungen und die Weihnachtshistorie.

Das Leben und Schaffen von Heinrich Schütz ist nicht nur von der Katastrophe des 30-jährigen Kriegs geprägt, von jener „Ansammlung von Massenmorden, Seuchen, Zerstörung, Hungersnot und Ausbeutung“, wie es der Musiker und Schütz-Interpret Benoît Haller beschreibt: Immer wieder suchen Todesfälle die Familie des Komponisten heim. Seine Musik dokumentiert jedoch eine beeindruckende Festigkeit im Glauben. Stets versucht Schütz, sich für Friede und Dialog zwischen den Menschen einzusetzen: „Er war Vermittler zwischen der deutschen und der italienischen Kultur, zwischen dem alten und dem neuen Stil, zwischen Humanismus und Aufklärung, zwischen Renaissance und Barock, ohne dass man ihn mit Bestimmtheit in eine dieser Kategorien einordnen kann.“

Oder, wie Michael Heinemann es am Schluss seiner Schütz-Biografie formuliert: „Er war vielleicht der einzige deutsche Komponist seiner Zeit mit internationaler Reputation, dem die Traditionen protestantischen Komponierens ebenso vertraut waren wie die neue, theatralische Musik Italiens. In der Verbindung konventioneller und moderner Techniken des Tonsatzes gelang es ihm, eine individuelle Musiksprache zu formulieren, deren besondere Dimension noch immer zu entdecken ist.“

Hierfür empfehlen sich unter anderem zwei (hörenswerte wie erschwingliche) Gesamteinspielungen der Musik Schütz‘: die 2009 begonnene und mittlerweile mit 28 CDs fertiggestellte Carus-Edition unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann sowie die 2012 auf 19 CDs veröffentlichte Box mit der von Matteo Messori dirigierten Cappella Augustana. Als Spiritus Rector der Carus-Produktion hat Rademann 2019 in einem Interview Einblicke in seine aus der Beschäftigung mit dieser Musik gewonnenen Erkenntnisse gewährt: „Zum einen ist für mich der Aspekt der musikalischen Lesung sehr in den Vordergrund gerückt. Schütz agiert ja immer als Ausleuchter des Wortes – wie jemand, der einem eine Laterne über den Text hält. Er verharrt bei Stellen, die ihm persönlich wichtig sind, lange über dem Text und hat häufig Wiederholungen komponiert. Wenn man sich mit Schütz befasst und seine Musik kennt, dann lernt man, mit den Ohren zu sehen.“

Gefragt nach der besonderen Tonsprache des Komponisten, von dem nur Vokalwerke bekannt sind, geht Rademann gerne ins Detail, ist es doch vor allem der musikalische Umgang mit der Sprache, die nicht nur den Dirigenten fasziniert: „Ein Bild ist ja eine visuelle Sinneserfahrung. Wenn Schütz aber nun bestimmte Worte vertont, dann entsteht ein musikalisches Bild. Zum Beispiel der Splitter, den man im Auge seines Nächsten sieht [Anm. d. Red.: SWV 409 | https://www.youtube.com/watch?v=ma4u5pl-vJw ]: Das sind maximal eine Achtel- und zwei Sechzehntelnoten – der Balken, den man im eigenen Auge nicht bemerkt, erklingt als großer, langer Aufstieg über eine Oktave und wird dann als Ton über drei Takte lang gehalten. Soll der große Balken also den Blick auf den kleinen Splitter verdecken, so dass der Hörer buchstäblich ein Brett vor dem Kopf hat? Tatsächlich ‚sieht‘ man den Splitter nicht mehr. Oder nehmen Sie die Motette ‚Ich bin ein rechter Weinstock‘ [SWV 389 | https://www.youtube.com/watch?v=Nb-Sdr_COlc ]: Hier zaubert Schütz an einer Stelle tatsächlich ein Weinberg-Plateau in die Partitur hinein. Das kann man sogar optisch nachvollziehen, denn wenn man die auskomponierten Girlanden hört und die Partitur um 90 Grad dreht, sieht man Trauben hängen! Ich kann mich oft kaum retten vor den vielen Eindrücken, die diese Musik uns schenkt. Wer Schütz hört, begreift, was Musik ist, ihre Bedeutung und Aussage.“

Die „Kurtze Beschreibung des Herrn Heinrich Schützens […] geführten mühseeligen Lebens-Lauff“ kann man auf der Homepage des Heinrich-Schütz-Hauses im Wortlaut nachlesen: http://www.heinrich-schuetz-haus.de/exponate/exponat_september_2008.php

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