Musik, die zum Schauspiel wird
Alle früheren Einspielungen der Kantate „Die erste Walpurgisnacht“ von Felix Mendelssohn Bartholdy kombinieren das nicht allzu lange Werk mit anderen Stücken oder verstehen es als klingenden Appendix im Schatten des Bekannteren. Carus stellt Opus 60 mit dieser Aufnahme mal in den Mittelpunkt und ergänzt es durch Auszüge von Mendelssohn Bartholdys Schauspielmusik „Oedipus in Kolonos“.
Letzteres nahm Frieder Bernius mit den Männerstimmen des Kammerchors Stuttgart und der Klassischen Philharmonie Stuttgart bereits 2004 auf und veröffentlichte es bei Carus 2009 sowie 2014 mit weiteren Schauspielmusiken Mendelssohns. Für die vorliegende Einspielung der „Walpurgisnacht“ dienen diese drei Tracks also eher als Trailer für die im Booklet beworbene Gesamtaufnahme, weswegen sich das Augenmerk dieser Besprechung auf Opus 60 konzentrieren kann.
Schon mit den ersten Takten weiß man, woran man ist: Pulsierend lässt Bernius die Musiker der fein austariert agierenden Kammerphilharmonie Bremen voranstürmen, nutzt kleine dynamische Pausen zu neuem Schwung, die Spannung bleibt dabei ungebrochen. Das Tempo ist gewagt, in den Streichern geraten die Läufe zuweilen leicht verhuscht. Die erste Ouvertüre heißt „Das schlechte Wetter“ – doch statt dunkler Bewölkung herrscht hier Transparenz, vor allem die Holz- und Blechbläser spielen delikat. Attacca geht es über in die Ouvertüre II: Der darzustellende Frühling gerät licht und süß, weiterhin energiegeladen und einnehmend – Markenzeichen der ganzen Aufnahme.
Mendelssohn hat in seiner Kantate Verse Goethes vertont: Es geht um alte Bräuche, die das Christentum zu unterbinden versucht, doch das Volk will im Harzgebirge den Frühling nach heidnischem Brauch begrüßen. Das Spiel mit Licht und Schatten gelingt auch den Interpreten: Der Kammerchor Stuttgart stellt mutige Aufsässige dar, seine Diktion ist stets durchhörbar und akzentuiert; die Solisten – Renée Morloc (Alt), David Fischer (Tenor), Stephan Genz (Bariton) und David Jerusalem (Bass) – gestalten ihre Rollen packend, das Orchester gibt die farbenfrohe Kulisse reich an Kontur. Die Dialoge zwischen den Solisten und dem Tutti sind stets von prickelnder Spannung erfüllt.
„Die erste Walpurgisnacht“ ist eine weltliche Kantate und gehört nicht zu den Schauspielmusiken (wie „Oedipus in Kolonos“); hier jedoch wird die Musik selbst zum Schauspiel, der Kammer- wird zum Opernchor: ein wunderbares „Rundgeheule“ also, wie es in einem Chor heißt. Und Frieder Bernius erweist sich einmal mehr als überzeugter und glutvoller Romantiker mit besonderem Faible für die Musik Felix Mendelssohn Bartholdys.
Felix Mendelssohn Bartholdy: Die erste Walpurgisnacht op. 60 & Oedipus in Kolonos op. 93 (Auszüge) | Renée Morloc (Alt), David Fischer (Tenor), Stephan Genz (Bariton), David Jerusalem (Bass), Kammerchor Stuttgart, Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Klassische Philharmonie Stuttgart, Frieder Bernius (Leitung) | Carus Nr. 83.503