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Eine unglaubliche Reise

Die Welt befindet sich in Auflösung, so scheint es: Das Klima wandelt sich rasant, Krisenherde entbrennen, Religionen stehen gegeneinander auf, Autokraten ergreifen die Macht und führen Kriege. Man könnte durchaus in eine gewisse Endzeitstimmung geraten und angesichts dessen fällt es wahrlich nicht leicht, in rechte Weihnachtslaune zu kommen. Da wirkt der Rat, beides miteinander zu kombinieren, eher seltsam. Doch genau das tun die beiden Künstler Arianna Savall und Petter Udland Johansen, die als Ensemble Hirundo Maris mit dem spanischen „El cant de la Sibil.la“ und dem norwegischen „Draumkvedet“ christliche Apokalypse-Schilderungen musizieren.

Das Lied der Sybille und das Traumgedicht sind inhaltlich dahingehend verwandt, dass sie das Ende der bestehenden Welt und den Beginn eines neuen Zeitalters prophezeien. Beide haben ihren angestammten Platz in der Weihnachtsliturgie: „El cant de la Sibil.la“ erzählt auf der Iberischen Halbinsel von der Ankunft des Erlösers und dem Jüngsten Gericht und „Draumkvedet“ als mittelalterlich-norwegische Ballade anlässlich der Rauhnächte von Olav Åsteson, der am Weihnachtsabend in einen tiefen Schlaf fällt, aus dem er am Dreikönigstag erwacht und von einer kosmischen Reise berichtet, die ihn Himmel und Hölle beschreiten lässt.

Man hört den Gesang der Sybille in zwei Variante: einmal aus Barcelona und einmal aus Girona. Hier und im „Draumkvedet“ haben Arianna Savall und Petter Udland Johansen jeweils mediterrane und nordische Gesänge und Musiken zu drei Teilen arrangiert, die von Solosingstimme und Chor vorgetragen werden. Stilistisch bewegen sie sich dabei zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert. Das reiche Instrumentarium umfasst Harfen, Leiern, Klangschalen, Hardanger- und Renaissancefiedel, Flöte, Dudelsack, Zink, Schalmei, Dobro d’amore (eine als Gitarre gespielte Viola d’amore), Santur (eine Art Psalterium), Glocken, Bass und Violone. Ian Harrison, Sveinung Lilleheier, Miquel Angel Cordero und Daniel Mayoral heißen die Künstler, die Savall und Johansen begleiten; es singt das 13-stimmige, von Johansen und Charles Babier geleitete Ensemble Vocal de Sait-Maurice.

Savall besticht hier durch einen zuweilen knabenhaft schimmernden Sopran und Johansen durch einen rezitierenden Tenor, der einem ganz nah kommt. Auch wenn die Musik arrangiert ist und durch fremde Sätze sowie eigene Kompositionen stimmungsvoll ergänzt wird, klingt sie in ihrer dargebrachten Form vollkommen authentisch. Okzident trifft klanglich auf Orient und beide sprechen plötzlich die gleiche Sprache. Die Musik ist meditativ, ohne je redundant zu werden oder ins Seichte abzudriften. Im Booklet danken die Künstler verschiedenen Menschen, die sie für diese CD auf einer „unglaublichen Reise“ begleitet haben. Und genau das ist der Silberling auch für den Hörer.

Natürlich sollte man die Erkenntnis, dass die Menschheit schon in früheren Jahrhunderten in Endzeitstimmung war und dies besang, nicht als Persilschein nehmen, dass auch die aktuellen Zeichen der Zeit eher leere Schatten als Menetekel sind. Aber die Musik, die das Ensemble Hirundo Maris auf dieser CD vorstellt, kann einem gerade zur Weihnachtszeit etwas Trost und Hoffnung oder zumindest Ablenkung von düsteren Gedanken schenken.

El cant de la Sibil.la & Draumkvedet | Ensemble Hirundo Maris (Arianna Savall , Petter Udland Johansen, Ian Harrison, Sveinung Lilleheier, Miquel Angel Cordero und Daniel Mayoral) und Ensemble Vocal de Saint Maurice | Carpe Diem Records CD-16333

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